„Purpose wird zum Hype aufgebauscht“

Management-Versteher und Bestsellerautor Gunter Dueck sagt im Interview, warum die Bedeutung von Leistungsträger*innen enorm unterschätzt wird, wann New Work problematisch ist und was er von Überstunden hält.
"Wenn die Deutsche Bahn ihren Sinn in Qualität und Pünktlichkeit sieht, reizt das eher Mitarbeiter und Kunden zum Lachen", sagt Gunter Dueck. (© privat)

Herr Dueck, viele Unternehmen geben sich einen „Purpose“ oder suchen noch danach. Sie bezeichnen das in Ihrem Buch als „ziemlich albern“. Was stört Sie daran?

Schauen Sie einmal, wie Unternehmen ihren Purpose beschreiben. „Teamgeist ist der Schlüssel für eine starke Kultur“ oder „Wir verbinden unsere tägliche Arbeit mit einem größeren, gemeinsamen Ziel“, so heißt es zum Beispiel bei der Deutschen Telekom. Das sind blumige, unverbindliche und austauschbare Sätze, mit denen Unternehmen einen kulturell wertvollen, höheren Zweck erfüllen wollen.

Was ist daran verkehrt?

Dass meist nur Whitewashing betrieben wird. Purpose ist ein Etikett, das sich anfangs ein paar Prozent der Unternehmen aufgeklebt haben. Das wird dann auf Konferenzen und Kongressen zum Hype aufgebauscht, sodass sich Firmen zu schämen beginnen, die in dieser Hinsicht blank sind: „Wir brauchen das auch!“ Aber hinter einem ernst gemeinten, klar benannten Purpose müssen einklagbare Werte und Grundsätze stehen, an die sich ein Unternehmen zwingend hält.

Zum Beispiel?

Wenn beispielsweise die Deutsche Bahn ihren Sinn in Qualität und Pünktlichkeit sieht, reizt das eher Mitarbeiter und Kunden zum Lachen, oder? Ich behaupte nicht, dass der Ansatz sinnlos ist, aber die Ergebnisse, die wir überwiegend sehen, sind lächerlich.

Zugleich erwartet gerade die jüngere Generation, dass Unternehmen nicht nur erfolgreich wirtschaften, sondern sich an darüber hinausgehenden Werten orientieren.

Das ist ein Phänomen, das nicht nur die Arbeitswelt betrifft. Es entsteht eine neue Elite, die nicht nach dem höchsten Gehalt oder dem dicksten Sportwagen strebt, sondern sich über demonstrativen Konsum und wertebewusstes Handeln definiert. Da wird vieles zum Thema, von Flugscham bis zum politisch korrekten Gesang, Stichwort „Layla“. Mitunter beobachte ich da eine sehr aristokratische Haltung zu Werten.

Erwarten Sie nicht, dass angesichts von Inflation und Krisenängsten auch Einkommensfragen bald wieder relevanter werden?

Die meisten Akademiker sind als gefragte Fach- und Führungskräfte finanziell gut situiert, sodass sie bei Weitem nicht ihr ganzes Einkommen brauchen, um ihren Lebensalltag zu bestreiten. Zudem ist es mit ihrem Werteverständnis gut vereinbar, zum Beispiel Kleidung länger zu tragen und nicht alle zwei Jahre ein neues Auto zu leasen.

Kann New Work neue Impulse setzen?

Es ist ein Fortschritt, wenn sich mobiles Arbeiten breitflächig durchsetzt. Dass dadurch die Arbeitsleistung sinkt, wie manche Skeptiker wähnten, hat sich nicht bewahrheitet. Es ist aber weiterhin wichtig, dass sich Mitarbeiter persönlich kennen und miteinander vertraut sind, wie auch immer das praktisch umgesetzt wird. Unter dem Stichwort New Work versammeln sich für meinen Geschmack aber zu großer Idealismus und der große Wunsch nach Weltverbesserung. Bei vielen Start-ups klappt New Work sicher gut, aber mit zunehmender Unternehmensgröße dominiert dann wieder das Normale.

Laut Ihrer Diagnose befindet sich die „Deutschland AG“ seit Jahren in einem Abwärtsstrudel. Woran machen Sie das fest?

Den Niedergang erleben wir täglich mit. Autobahnen sind sanierungsbedürftig, Brücken verfallen, die Bahn wird immer chaotischer, viele Universitäten und Schulen sind marode, Lehrer fehlen, die Bundeswehr ist nicht einsatzfähig. Das Pflegesystem ist überlastet, wer kümmert sich um die Folgen von Altersarmut und Überalterung? Und Entwicklungsländer lachen über den Status quo unseres Internetausbaus. Ich könnte mit Beispielen noch eine Weile fortfahren.

Mangelt es Management und Beschäftigten an Ehrgeiz und Einsatz?

Am Engagement liegt es nicht, aber die ungezählten Überstunden zerfließen im Fixen von Problemen. Das Grundsätzliche wird nicht angepackt – keine Zeit! David Maister prägte die Vorstellung vom „Fat Smoker“, dem übergewichtigen Raucher: Er kennt sein Problem und die Lösung, aber er rafft sich nicht auf. Auch in Wirtschaft und Politik bleibt der nötige Ruck für einen Turnaround aus. Das ist die Misere so vieler „Ausreichend“-Unternehmen, wie ich sie nenne. Sie und ihre Mitarbeiter wissen, dass sie agiler werden und sich grundlegend wandeln müssen, aber es passiert wenig bis nichts.

Was raten Sie?

Ich werde oft gefragt, wie Unternehmen mit dem digitalen Wandel umgehen sollen. Darauf antworte ich gerne so: Betrachten Sie Ihre Firma mit den Augen eines 15-Jährigen – und ändern Sie alles, was er im digitalen Sinn überholt und altmodisch findet. Auf diese Weise können sich Unternehmen deutlich im Spiegel sehen, aber – und hier liegt das Kernproblem – sie arbeiten meist lieber mit den erkannten Fehlern weiter, das ist bequemer. Weil sich viele vor der Therapie fürchten, blenden sie die Diagnose aus. Alteingesessene Branchen neigen dazu, sich für perfekt, mindestens aber für unangreifbar im Ganzen zu halten. Dafür gibt es viele Beispiele, ob Automobilindustrie, Einzelhandel oder Stromversorger. Während Herausforderer, neue Anbieter und Start-ups ein neues Geschäftsmodell entwickeln, sind die klassischen Unternehmen dafür nicht mehr qualifiziert. Das kostet sie einige Jahre Aufholjagd und manchmal ihre Existenz.

Was haben große Start-ups herkömmlichen Großunternehmen voraus?

Während die Etablierten an ihren früher sinnvollen Finanzsystemen festhalten und sich hauptsächlich am Gewinn orientieren, messen die Start-ups, wie sie vorankommen, was sie lernen und wie gut sie darin sind, Top-Arbeitskräfte für sich zu gewinnen. Sie wollen schnell lernen und sich die nötigen Kompetenzen aneignen, um ihr Ziel zu erreichen. Dazu sind die Großunternehmen selten bereit, sie halten an starren Strukturen fest. Veränderungen lösen erst mal Widerwillen aus.

Sie waren als Professor und Manager selbst lange Zeit Chef. Worauf haben Sie Wert gelegt?

Mir war wichtig, dass meine Mitarbeiter fröhlich zur Arbeit kommen, sich wohlfühlen und ihre Stärken einbringen können. Ich hatte aber auch viele Fälle, bei denen sich Mitarbeiter gezwungen fühlten, falsche oder meist zu hohe Erwartungen zu erfüllen, zum Beispiel die der Eltern oder Partner, was die beste Anleitung zum Unglücklichsein ist. Wer für sich selbst den Anspruch „super“ erhebt, findet Wertschätzung auf dem Niveau „gut“ fast ärgerlich. Das macht krank.

Punkten Mitarbeitende durch Überstunden?

Bei mir nicht. Wir hatten bei IBM in den 1990er-Jahren die 35-Stunden-Woche und ich habe meinen Leuten gesagt: Unser Forschungszentrum gehört zu den weltweit besten, also erwarte ich auch Weltklasse-Leistungen. Aber nicht zum Preis von Überstunden, die waren auch für mich kein Thema: Kurz vor 16.30 Uhr bin ich nach Hause gegangen. Später allerdings kam meine Schriftstellerei dazu, ja, da habe ich dann doch ziemlich viel mehr gearbeitet.

Wie unterscheiden sich Leistungsträger*innen von durchschnittlichen Beschäftigten?

Die durchschnittlichen verschwenden oft Zeit durch Prokrastinieren, jammern über ihre Arbeit, lernen unwillig, sehen sich erstaunlicherweise als fertig entwickelt an und mögen keine Veränderungen. Leistungsträger übernehmen typischerweise gerne Verantwortung, suchen nach neuen Wegen, wollen exzellent sein, kommunizieren gut. Sie sind deshalb in Top-Jobs viele Male besser als der Durchschnitt. Die Besten bringen den Gewinn heim, die Schlechtesten lösen oft teure Katastrophen aus. Leistungsträger sein dreht sich nicht primär um die Frage, wie gut man ist, sondern wie sehr man gut sein will.

Wie findet und fördert ein Unternehmen seine Leistungsträger*innen?

Das wird ein großes Thema! Unternehmen haben derzeit Probleme, überhaupt Mitarbeiter zu finden. Ich spreche von nötiger Recruitability, der Fähigkeit eines Unternehmens, gute Leute anzuziehen. Leistungsträger wissen doch, was sie zur Entwicklung brauchen: Projekte, an denen sie wachsen können, Inspiration, Persönlichkeitsentwicklung, Managementausbildung, um sich auch in Chefs und Kunden hineinzuversetzen, oder die Freiheit, die weltbesten Kongresse zu besuchen.


Gunter Dueck, 70, hat Sachbuch-Bestseller wie „Abschied vom Homo Oeconomicus“ (2007), „Das Neue und seine Feinde“ (2013), „Schwarmdumm“ (2015), „Flachsinn“ (2017) und „Heute schon einen Prozess optimiert?“ (2020) geschrieben. Sein aktuelles Buch trägt den Titel: “Keine Sinnfragen, bitte! Wir arbeiten leidenschaftlich – für die Tonne.” Als Autor und gefragter Redner hat er nach dem Eintritt in den offiziellen Ruhestand seine dritte Karriere gestartet. Nach fünf Jahren als Professor für Mathematik an der Universität Bielefeld war Dueck die längste Zeit seines Berufslebens (1987-2011) für das Wissenschaftliche Zentrum der IBM tätig.  

Roland Karle (rk, Jahrgang 1966) schreibt über Marken & Medien, Beruf & Sport. Hat BWL/Marketing an der Uni Mannheim studiert, bei einer Tageszeitung volontiert und arbeitet seit 1995 freiberuflich. Er porträtiert gerne Menschen in Zeilen und Märkte durch Zahlen. Hang zum Naschkater und Volltischler. Im früheren Leben ein fröhlicher Libero.