KI: Auf die Plätze, fertig, Pause

Beim Thema künstliche Intelligenz ist es genauso wie bei einem sportlichen Wettbewerb: Man sollte die Rechnung nie ohne den vermeintlichen Underdog machen, findet unsere Tech-Kolumnistin Isabelle Ewald.
Isabelle Ewald, Senior Consultant Technology Strategy bei der Otto Group. (© Privat (Montage: Olaf Heß)

Was ist alt, eingesperrt und doch so flexibel, dass es sich immer wieder den Weg in die Freiheit bahnt? Genau, ein Kindheitstrauma! Wie jeder normale Mensch trage ich natürlich auch einige mit mir herum, und nein, sie müssen nicht immer mit seelischer Pein verbunden sein. Manchmal tragen sie einfach nur eine brutale Lektion in sich. So wie damals, im Sommer 1992, als ich bei den Bundesjugendspielen im Staffellauf lernen musste, wie das ist, mit den eigenen Waffen geschlagen zu werden. In diesem Fall: Überheblichkeit.

Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich den Staffelstab als Letzte ins Ziel tragen würde, denn großkotzig redete ich mir (und anderen) ein, dass eine Konkurrentin aus der Parallelklasse auf jeden Fall sportlich schlechter gestellt sei als ich. Siegessicher peile ich mit ordent­lichem Vorsprung die Ziellinie an, um plötzlich festzustellen, dass ich von einem Kugelblitz in Menschengestalt überholt werde. Long story short: Ich war tagelang das Gespött der Klasse.

Außer Kontrolle geratener Wettlauf?

Ich bilde mir ein, dass die Granden der Technologiewelt sich gerade mit einem ganz ähnlichen Gefühl herumschlagen müssen – der Erkenntnis, dass sie das Tempo nicht (mehr) vorgeben. Tatsächlich haben sich dieser Tage große Namen einer öffentlichen und schriftlich festgehaltenen Forderung angeschlossen, wonach KI-Entwicklung doch bitte eine Pause machen möge. Darunter Elon Musk, Steve Wozniak und Skype-Mitbegründer Jaan Tallinn. In einem von der gemeinnützigen Organisation „Future of Life Institute“ initiierten offenen Brief heißt es, dass sich KI-Labore in einem „außer Kontrolle geratenen Wettlauf“ befinden, um maschinelle Lernsysteme zu entwickeln und einzusetzen, „die niemand – nicht einmal ihre Erfinder – verstehen, vorhersagen oder zuverlässig kontrollieren kann“. Damit einhergehend: der Ruf nach mehr Sicherheitsstandards.

Mein innerer Nelson Muntz – der Schul-Bully aus der Zeichentrickserie „Die Simpsons“ – (ausgerechnet!) zeigt just in diesem Moment mit dem Finger auf den oben genannten Personenkreis und ruft sein unverkennbares „Haha!“. Das sind dann wohl die Geister, die man rief, als man KI als stärkstes, aber ungezügeltes Pferd im Stall auf die Rennbahn geschickt hat mit dem Ziel, möglichst viele Trophäen einzuheimsen.

Blöd nur, wenn ein Nobody namens ChatGPT das Spielfeld buchstäblich von hinten aufrollt. Das Unternehmen dahinter, OpenAI, lässt mit einer Unterschrift des offenen Briefes jedenfalls auf sich warten. Kein Wunder: Es ist der Ziellinie inzwischen am nächsten von allen – und hier wartet am Ende mehr als nur eine schnöde Urkunde.

Isabelle Ewald ist Senior Consultant Technology Strategy bei der Otto Group und Co-Host des Crime- und Gesellschaftspodcasts „Mind the Tech“, der zweiwöchentlich erscheint.