Gegen digitale Vergesslichkeit hilft Multi-Channel-Management

Guter Kundenservice basiert auf kanalübergreifender Kommunikation. Die Transformation ist in vielen Unternehmen in vollem Gange, aber die Technologie ist zum Teil veraltet, stellt Dirk Scholand fest. Der geschäftsführende Gesellschafter von Scholand & Beiling Partner sowie Managing Partner der eGain Deutschland GmbH hält es für ein „sehr gesundes Verhalten“, auf die Taktvorgaben der Kunden zu reagieren. Unternehmen könnten wieder vollständig neu glänzen und Zielgruppen erschließen, sagt er im Interview mit absatzwirtschaft-Experte Bernhard Steimel.

Herr Scholand, in den vergangenen zehn Jahren sind E-Mail, Web und jetzt Social Media und Mobile als Service-Kontaktpunkte hinzugekommen. Warum ist es für viele Unternehmen so schwer, mit diesen Gegebenheiten professionell umzugehen?

DIRK SCHOLAND: Dass es heute mehr Kommunikationskanäle gibt, bezeichne ich als Symptom. Die Ursache ist, dass sich unser Verhalten als Verbraucher massiv verändert hat. Wir haben einen enorm höheren Anspruch an konsistente Kommunikation und wir haben eine viel höhere Taktgeschwindigkeit angenommen. Von Unternehmen erwarten wir eine schnellere Kommunikation als bisher, dementsprechend niedrig ist die Toleranzschwelle, wenn wir sagen: Das ist ein guter, punktgenauer und schneller Service, der trifft genau meine Bedürfnisse.

Für Unternehmen ist es eine enorme Herausforderung, bei dieser Geschwindigkeit mitzuhalten und die servicetaugliche Massenkommunikation darauf einzustellen. Wenn die E-Mail nicht schnell genug beantwortet wird, ruft der Kunde an oder geht in den Chat. Unternehmen müssen im Rahmen ihrer Prozesssteuerung folglich sicherstellen, dass diese Informationen intern allen relevanten Mitarbeitern zur Verfügung stehen. Damit tun sich in der Tat manche Unternehmen noch schwer, weil sie erst an der richtigen Multi-Channel-Strategie arbeiten. Sie klären zunächst, wie sie mit ihren Kunden kommunizieren möchten, ob beispielsweise auch ein Social-Media-Kanal wie Facebook wichtig ist. Selbst im deutschen Mittelstand setzt man sich derzeit mit diesen strategischen Fragen auseinander, hinkt aber beim Reifegrad zum Teil um ein Vielfaches den Enterprise-Organisationen hinterher.

Welche Chancen verpassen Unternehmen, die den vernetzten Kunden nicht bedienen?

SCHOLAND: Die Unternehmen haben die Möglichkeit, wieder vollständig neu zu glänzen und sich eine Zielgruppe zu erschließen, die vielleicht noch gar nicht durch die Mühlen „mittelmäßiger Service-Organisationen“ gelaufen sind. Meine Generation hat noch erlebt, dass es Call-Vermeidungsstrategien gab. Die neue Generation dagegen ist es gewohnt, digital zu kommunizieren und ihre Probleme im Web zu lösen. Auf dem Weg in die Multi-Channel-Welt haben wir mehrere Unternehmen begleitet. Das waren E-Commerce-Firmen oder Start-ups im Mobilfunkbereich, und diese Unternehmen haben beim Thema Service kaum noch das Telefon im Blick. Was in der Servicekommunikation wirklich interessant ist, sind Kanäle wie Chat und Social Media. Wie sie diese neuen Kanäle bestmöglich in ihre Servicestrategien einbauen können, beschäftigt diese Unternehmen. Dadurch nutzen sie die Chance, ihre Kunden zu begeistern.

Kunden beklagen oft die schleichende Alzheimer vieler Unternehmen und erleben Services als fragmentiert. Was können Unternehmen dagegen tun? Wo ist häufig der „broken process“?

SCHOLAND: Unternehmen müssen in der Lage sein, den Kunden auf allen Kanälen abzuholen und konsistentes Wissen über den Kunden vorzuhalten. Nur so erkennt der Kunde, dass sein Anliegen ernst genommen wird. Im Umkehrschluss darf es zum Beispiel nicht passieren, dass der Kunde, dessen E-Mail-Anfrage noch nicht beantwortet wurde und der dann im Unternehmen anruft, dem Servicemitarbeiter am Telefon das gesamte Problem noch einmal schildern muss. Sind die Kontaktkanäle in einem Unternehmen noch nicht in dem Sinne harmonisiert, dass ein konsistentes Wissen über den Kunden vorliegt, hat das nichts mit Erkenntnismangel zu tun, sondern damit, wie die Geschäftsprozesse organsiert sind und mit welcher Technologie die einzelnen Kanäle betrieben werden und ob diese im Hintergrund verknüpft werden können. Ein intelligentes Multi-Channel-Management stellt zum Beispiel sicher, dass bei einem Abbruch der Chat-Kommunikation mit dem Kunden und dem dann folgenden Telefonanruf des Kunden der Mitarbeiter am Telefon sofort die vollständige Chathistorie wie auch die vollständige Kundenhistorie einsehen kann.

In Expertenkreisen wird von „außen fächern, innen bündeln“ gesprochen – wie funktioniert das in der Praxis?

SCHOLAND: Das gebetsmühlenartig vorgebrachte „vorne breit gefächert und hinten gebündelt“ ist absolut richtig. Wir haben allerdings noch nicht erlebt, dass sich ein Unternehmen für eine komplett neue Technologie entschieden hat und alle Kanäle ad hoc eingesetzt hat. Das wäre sicher auch eine Überforderung. Unsere Kunden tragen stattdessen ein dezidiertes Problem an uns heran. Zum Beispiel, dass die Zielgruppen verstärkt Internet-Dienste in Anspruch nehmen, das Unternehmen entsprechende Hilfe-Angebote im Web aber nicht zur Verfügung stellen kann. Wir lösen somit zunächst das dringendste punktuelle Problem, das ein Kunde hat. Gleichzeitig definieren wir mit dem Kunden bereits im Vorfeld weitere strategische Schritte, beispielsweise wie der der Customer Service in zwei Jahren funktionieren soll. Es werden in der Regel einzelne Kanäle auf einer zentralen Plattform in Betrieb genommen, sodass wir Zug um Zug siloartige Point-to-Point-Solutions ablösen.

Ein Beispiel ist die E-Mail-Beantwortung: Gerade mittelständische Unternehmen beantworten ihre E-Mails noch mit Outlook oder Lotus Notes und verzichten im Ablauf somit auf Prozessintelligenz. Mithilfe der eGain-Plattform automatisieren wir die Themen, lesen den Content aus, treffen automatisiert bereits Antwort-Entscheidungen und holen den richtigen Artikel direkt aus der Wissensdatenbank heraus und im Zweifel gibt es außerdem Unterstützung durch eine Backend-Information. Liegt bei einem großen Telekommunikationsunternehmen wie beispielsweise Orange in Frankreich eine Störung in der Telefonie vor, wird dieses Problem mithilfe der Plattform direkt aus den Vermittlungsstellen abgegriffen. Und noch bevor der erste Mitarbeiter eine E-Mail zu dieser Problemlage auch nur öffnet, bekommt er einen Antwort-Vorschlag. Sowohl die Antwortgeschwindigkeit als auch die -qualität sind mit der Technologie optimiert worden. Dies machen wir letztlich mit allen Kanälen – Mail, Chat, Video-Chat oder Social. Idealerweise ist diese Lösung modulartig organisiert im Sinne eines Baukastens, der Evolution zulässt und keine Revolution produziert.

Was sind Zutaten von zukunftssicheren Service-Strategien und wie sieht der Customer Service der Zukunft aus?

SCHOLAND: Erste Voraussetzung ist die Unternehmensstrategie: Es muss vollständig klar sein, wo das Unternehmen heute steht und wo es in 24 oder 36 Monaten sein will. Zweitens muss eine Service-Strategie formuliert werden, die ein inhärenter Teil der Unternehmensstrategie ist. Sie darf auf keinen Fall davon losgelöst sein. Wenn ich als Unternehmen eine klare Vorstellung von der Zukunft habe und davon, wie mein idealer Service von morgen aussieht, dann kann ich auch Aussagen über meine derzeitigen Schwachstellen treffen. Und auf dem Weg in Richtung Zielarchitektur muss eines ganz klar sein: Unternehmen werden dann erfolgreich sein, wenn sie ihre Manager, Führungskräfte und Mitarbeiter und teilweise auch ihre Kunden involvieren und zu einem Teil dieses Prozesses machen. Immer wenn wir eine solche Situation erleben, sehen wir erstklassige Transformationsprozesse.

Das Gespräch führte Bernhard Steimel.

Dirk Scholand ist einer der Experten, die in der Studie „Digitale Transformation“ zu Wort kommen. Sie können den Praxisleitfaden von Mind Business Consultants und absatzwirtschaft kostenlos herunterladen. Zum Download-Center geht es hier.