E-Scooter-Selbstversuch: Gegen den Strom

Seit letztem Wochenende haben die Verleiher von elektrischen Tretrollern die Betriebserlaubnis erhalten und fluten München, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und Berlin. Bei den Fahrern führt die Nutzung mitunter zum Verlust von Kinderstube und gesundem Menschenverstand. Eine Selbsterkenntnis.
Nicht zur Nachahmung empfohlen: Beim einhändigen Fahren wird der E-Scooter instabil. (© Imago, Puscher / Montage: absatzwirtschaft)

Berlin, Hauptbahnhof am Montag nach dem „Roller-Wahnsinn“: Eigentlich ist die Zeit knapp, bis zum abendlichen Treffen mit einer Gruppe von Referenten, die sich an den folgenden Tagen mit dem Thema Content-Marketing beschäftigen möchten. Aber die Verlockung ist zu groß. Natürlich haben mir die Retargeting-Algorithmen alle möglichen Nachrichten über E-Scooter in den Newsfeed gespült. Und natürlich habe ich mitbekommen, dass das Kraftfahrtbundesamt letzte Woche den Verleihern das Go gab, um die kleinen Elektroroller in den Städten feilzubieten. Und da Berlin das Epizentrum der Verleihbranche ist und mich ein Moderationsengagement in die Hauptstadt lockte, locken mich nun die Roller vor der Tür für eine kleine Spritztour.

Die „Berliner Zeitung“ berichtet, dass zehn Verleiher um die Gunst der Kunden buhlen. Die meisten starten mit 100 Gefährten. Nur bei Tier will man gleich richtig Gas geben – was vermutlich in diesem Zusammenhang eine unerlaubte Metapher ist. 1000 Roller sollen es binnen kurzer Zeit werden.

Da mir nur wenig Zeit für den Versuch zur Verfügung steht, wähle ich den Rollerprotz. Da ist die Wahrscheinlichkeit am größten, auf die Schnelle ein Gefährt zu bekommen. Und in der Tat: Die App zeigt direkt vor der Tür des Hotels eines der begehrten „Tierchen“.

Leicht zu bedienende Mobilitäts-Apps

Kreditkarte hinterlegt, Zugangsdaten eingegeben und der App den Zugriff auf die Positionsdaten erlaubt – fertig ist die Laube. Wenn der Digitalisierungswahn ein Gutes hat, dann, dass die App-Entwickler voneinander abschauen und die meisten Mobilitäts-Apps folglich einfach zu bedienen sind. Gut, aus Marketingperspektive haben die auch keinen USP mehr, aber die meisten Start-ups haben halt noch keinen kreativen Brand Manager, der die Nutzerfreundlichkeit auf dem Altar der individuellen CI opfert.

Ich stehe vor meinem Tier und aktiviere den Ausleihvorgang. Mir entfährt ein mentales „Oops“, als mir der Preis angezeigt wird: Einen Euro „Freischaltungsgebühr“ kostet das und in der Folge 15 Cent pro Minute. Das läppert sich.

Mir egal. Bin schließlich beruflich unterwegs. Ich tippe auf den Ausleihknopf und nach drei Sekunden ertönt eine kleine Melodie aus dem Roller, die mir sagen will: „Ich bin jetzt für Dich da.“ Gleichzeitig erscheinen in der App einige Fahrtipps. Zuerst die wichtigen, zum Beispiel wo die Bremse ist. Dann später die unwichtigen, wo steht, dass man vorsichtig fahren und bitte einen Helm tragen soll. Pflicht ist der nicht. Rollern fahren darf jeder über 14, solange er Zugriff auf Papas Kreditkarte hat.

An der Ampel rechtzeitig auf „Grün“ spekulieren

Beschleunigt wird mit einem kleinen Hebel für den rechten Daumen. Das kenne ich von meinem E-Skateboard. Die Beschleunigung funktioniert erstaunlich verzögert. Zwischen dem Drücken des Hebels und dem Schnurren des Antriebs vergehen zwei quälende Sekunden. Das sollte man wissen, damit man an der Ampel rechtzeitig auf „Grün“ spekuliert, um sich nicht den Zorn der nachfolgenden Radfahrer zuzuziehen.

Obwohl: Dieser Zorn ist eigentlich unabwendbar. Mit maximal 20 Kilometern pro Stunde sind die Scooter zu langsam für den Radweg. Normale Radfahrer sind nur etwas schneller, aber die Profipendler oder die E-Bike-Mieter donnern vorbei wie Ferraris. Und jedes Mal beim überholt werden schwankt mein Gefährt leicht. Durch den niedrigen Schwerpunkt aber den großen Hebel der Lenkstange kombiniert mit den kleinen Rädern fühlt sich mein Tier etwas instabil an. Das verstärkt sich, wenn ich versuche beim Abbiegen Handzeichen zu geben. Und am Schlimmsten wird es, als ich zu meinem Ziel – einer schicken Bar nahe Hauptbahnhof – abbiegen will und dafür ein Stück Kopfsteinpflaster kreuzen muss. Das muss man erlebt haben. Das Gefühl liegt irgendwo zwischen Motocross in SlowMotion und Powerplate. Hier wird das komode Freizeitgefährt zum unfreiwilligen Sportgerät.

Mangels weiteren Vibrationsbedarfs wechsele ich in die verbotene Zone: auf den Fußweg. Anders geht’s auch nicht, denn ich müsste ja die Straßenseite wechseln, um in der gewünschten Richtung auf dem einspurigen Radweg weiter zu fahren. Und das wäre extrem lästig.

Gefühl eines „Fußgängers mit Hilfsmotor“

Mit dem E-Bike von Uber/Jump ging mir das vor acht Wochen ganz anders. Da fühlte man sich als „Großer“ und wechselte natürlich auf die „richtige“ Seite. Aber mit meinem possierlichen Tierchen bin ich doch so eine Art Fußgänger mit Hilfsmotor und instinktiv fühle ich mich zu den flanierenden Artgenossen hingezogen.

Die Bar Reinhard ist erreicht und die – teils neidischen, teils mitleidigen – Blicke meiner Abendgesellschaft sind mir sicher. Den Roller stelle ich irgendwo ab. Ist ja egal, er wird über die App gesperrt und das funktioniert reibungslos. Der Berliner Senat schreibt wohl vor, dass man die so hinstellen soll, dass sie nichts und niemanden  behindern, aber das ist ja eine dehnbare Definition.

Mein Fazit: Die Ausleih- und Rückgabe-Experience war phänomenal einfach. Inzwischen ist das kaum mehr erwähnenswert. Das Fahrerlebnis war ganz nett, aber ich verstehe sofort die Statistik aus Paris, die besagt, dass Scooter-Nutzer kaum das Auto stehen lassen, sondern die allermeisten sonst zu Fuß gehen würden.

Einzelne Anbieter unterscheiden sich kaum

Einen Marken- und Wiedererkennungswert haben die verschiedenen Roller kaum. Die Farben sind verschieden und es gibt bei anderen Anbietern auch höherwertige Modelle. Aber ganz ehrlich: Nach zweimal Fahren interessiert das nicht mehr. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Berliner Junggemeinde heute nicht schon zwölf Mobilitäts-Apps auf dem Smartphone hat. Da machen zwei, drei Scooter-Apps mehr auch nichts aus. Die Auswahl ist beliebig.

Was mir allerdings nicht ganz in den Kopf will, sind die Schlagzeilen der Berliner Tagespresse vom nächsten Morgen. Da wird berichtet, dass erste Bußgelder verhängt wurden. Es gab zwei Hauptvergehen: Fahren auf dem Gehweg – ich schaue kurz betreten zur Seite – und Fahren zu zweit oder zu dritt. Wow – ich hatte die akrobatischen Fähigkeiten der Berliner oder Berlintouristen komplett unterschätzt.

Polizei informiert Scooter-Nutzer per Twitter

Aus den Reihen der Polizei hört man, dass man die Bevölkerung dringend über das richtige Fahrverhalten aufklären möchte. Wohl hat man am Wochenende häufiger die Antwort: „Huch, das wusste ich gar nicht, dass man auf den Rollern nicht zu zweit fahren darf“ gehört. Und die Berliner Polizei weiß genau, wie sie ihre Pappenheimer erreicht: Die Aufklärung wird über Twitter erfolgen, DEM neuen Nachrichtenstandard für Deutschland.

Scooter-Fahren macht echt Spaß, aber  wie man auf die Idee kommen kann, Roller in unbegrenzter Zahl zuzulassen, in Gegenden, die im Tourismus-Sommer sowieso aus den Nähten platzen, das erschließt sich mir nicht. Für mich bleibt meine Tier-Erfahrung eine einmalige. Und hinter meinem Lieblings-Moia oder dem Power-Jump-E-Bike oder der lässigen Emmy-Rollerfahrt rangiert das Tierchen ganz weit hinten in der elektrischen Mobilitäts-Nahrungskette.

P.S. Es ist mir gelungen, einhändig ein ganz nettes Scooter-Selfie bei voller Fahrt zu schießen. Als ich es meinem 20-jährigen Sohn in angeberischer Absicht nach Hamburg schickte, kam als lapidare Antwort: „Haben wir hier auch, ist zu teuer.“