Alles fließt – Veränderungen sind tägliche Routine. Eher schmerzlich empfinden Mitarbeiter und Vorgesetzte, dass Strukturen und Prozesse immer wieder angepasst werden müssen und nicht mehr verlässlich sind. Die Organisation von Unternehmen steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Fünf Fragen an den Trendbeobachter Mathias Haas.
1. Dürfen Unternehmen überhaupt noch feste Organisationsstrukturen haben, so wie wir sie bisher kennen?
Es gibt „Mega-Growth-Player“ wie Apple, die haben – zumindest in Teilbereichen – keine Arbeitsplatzbeschreibungen. Die Definition des eigenen Aufgabenbereiches, des persönlichen Schutzgebietes fehlt dort bewusst, und mit Blick auf ihren Erfolg scheint dies ein legitimer Weg zu sein. Mit prüfendem Blick auf deutsche Arbeitsplatz-Systeme wäre es auch nur logisch, in gleicher Art den Rotstift anzusetzen (und sich gleich diese Arbeit zu sparen). Denn wer hat noch eine Stellenbeschreibung, die wirklich der Wahrheit entspricht?
Von einer anderen Flughöhe aus betrachtet ist es offensichtlich, dass der Umgang mit Veränderungen eine Frage der Haltung ist. Bin ich Täter oder (ewiges) Opfer? Wir wundern uns immer wieder, wenn Organisationen Projekte anstoßen, die suggerieren (sollen), dass nach deren Abarbeitung wieder Ruhe einkehrt. Das (Berufs-)Leben ist eine ewige Baustelle – und ganz ehrlich: Normalerweise meistern wir sie großartig. Jeder zweite Berufstätige arbeitet eigentlich schon mobil, unsere Geschäftsmodelle werden digital(er) und virtuelle Teams setzen sich durch. Informell passen wir uns täglich an, oft unter dem Radar der Strukturen und ohne Steuerung durch die „Flight-Control“.
Warum also werden die eigentlichen Organisationsstrukturen so selten angepasst? Unsere Erfahrungen aus Change-Beratungen sind eindeutig: Mitarbeiter halten die Wahrheit aus. Sie verstehen, dass die kurzfristige kleine Krise dem Totalausfall in ein paar Jahren vorzuziehen ist.
2. Wie müssen nachwachsende Generationen in Schule und Uni ausgebildet und auf agile Organisationen vorbereitet werden?
Ohne Denkverbote. Für agile Organisationen braucht es auch leichtfüßig-selbstbewusste Menschen. Dazu gehört, dass wir in unseren Bildungseinrichtungen „connecting the dots“ fördern – also den Blick auf Gesamtzusammenhänge. Fördern, nicht schulen. Das heißt zum Beispiel, dass neben der Vermittlung anwendbaren (!) Wissens dank umfassender Medienkompetenz eigene Urteile darüber möglich sind, welche Entscheidungen zu treffen und welche zu korrigieren sind. Dass Lehrpläne verbesserte Versionen erhalten – vierteljährlich und nicht im nächsten Jahrzehnt. Mit Blick auf Schule und Universität sehen mein Team und ich immer wieder zu wenig Freiraum und zu viele Leitplanken. Schüler, die nicht mehr zum Spielen oder zum Experimentieren kommen.
Doch im globalen Wettbewerb sind unsere jungen Menschen nicht nur mit Disziplin gut bedient, sondern auch mit Querdenken. Damit, radikal und mutig zu sein. Mit Statistikwissen, damit nicht jede Pressemeldung zum Megatrend wird und jede Lobby ein leichtes Spiel hat.
Idealerweise sehen wir bald jede Menge „Kaospilots“! Diese dänische Bildungseinrichtung gibt es schon seit 1991, doch leider nicht im wilden Süden. Als Business-School bildet sie das Leben ab und nicht den Lehrstuhl. Hier bekommen Schüler den Schlüssel zur Schule (für die freiwillige Nachtschicht) und nur ganz, ganz selten gibt es Bewertungen. Wie soll man den Misserfolg bewerten? Ist er doch Niederlage und Anschauungsobjekt zum Bessermachen zugleich – weswegen man Misserfolge im Rahmen einer solchen Ausbildung durchaus auch fördern kann. Die „Lehrer“ halten es aus, wenn eine Projektgruppe einen realen Kunden bedient und dieser sich nicht mehr meldet, weil das Projektkonzept „über Budget“ abgegeben wurde. Das richtige Leben eben. „Wild and crazy“. Die Abgänger sind Durchstarter – forsch und kühn. Davon könnten wir mehr gebrauchen …
3. „Uber“-Regulierung oder nicht: Wirken Regulierungen von Märkten für oder gegen den Menschen?
Politiker und Rechtsstaat sind zum Schützen da. Sie bilden die Basis unseres Systems, Gesetze sind Schutz und Schirm – aber kein All-inclusive-Club. Die Rückbesinnung auf jahrzehntealte Regelungen ist zwar menschlich und nachvollziehbar, doch auf Dauer nicht unbedingt erfolgreich. Egal, ob Uber mit 18 oder sogar mit 40 Milliarden US-Dollar bewertet wird: Es ist mächtig und es ist nur eines von vielen Beispielen. Die Financial Times schrieb im März, dass in den USA mehr als 80 Start-ups existieren, deren Unternehmenswert die Eine-Milliarde-US-Dollar-Marke gesprengt hat. Eine Blase? Ganz bestimmt!
Wo auf der einen Seite damit jede Menge (!) Lobbyarbeit realisiert wird, kann auf der anderen Seite auch der ein oder andere Taxischein bezahlt werden. Genau diese Strategie verfolgt Uber laut Medienberichten.
Die Antwort der Taxiverbände? Statt besser und engagierter zu werden, kommt der Hilferuf nach dem Staat. Schon vor einigen Jahren erlebte ich einen Münchner Taxifahrer, der mir auch ein Wasser oder ein Bierchen verkauft hätte. Warum auch nicht – Uber macht dies heute in London. In San Francisco sind die Taxis übrigens gerade dabei auszusterben. Die Zahlen der San Francisco Municipal Transportation Agency zeigen, dass pro Taxi im März 2012 insgesamt 1 424 Fahrten und im Juli 2014 noch ganze 504 Fahrten realisiert wurden. Wir sprechen von einem Rückgang von 64 Prozent in gut zwei Jahren! Was ist also besser für die beteiligten Menschen?
4. Markiert die Lebens- und Arbeitsweise des Silicon Valley die Art, wie wir zukünftig leben wollen oder sollten?
Uber verspricht großzügig „1 000 000 neue Stellen für Frauen bis 2020!“. Doch wollen wir diese Arbeitsplätze? Menschen bieten gegeneinander – Fahrer gegen Fahrer oder eben Fahrerin gegen Fahrerin. Der günstigste und flexibelste Fahrer bekommt den Zuschlag. Entscheidend für das Individuum ist jedoch, ob die Flexibilität freiwillig ist oder nicht. Sozialer Status wird eben weltweit vererbt: Einmal „Ridesharing-Fahrer“, immer „Ridesharing-Fahrer“. Damit ist die Frage nach der Anpassungswilligkeit wohl beantwortet.
Wie der „Silicon-Valley-Lifestyle“ genau abläuft, wird die „Valley Mindest Tour“ beschreiben. Ab 3. Juli bin ich für fünf Wochen in genau dieser Region (absatzwirtschaft wird im Herbst berichten), um auch diese Frage fundierter zu beantworten – mit Interviews und eigenen Beobachtungen: Ist alles „nur“ Kult? Ist es der ultimativ gelebte „American Dream“? Oder tatsächlich ein Zukunftsmodell für Menschen mit einem Durchschnittsgehalt von 100 000 Euro im Jahr (so die Durchschnittswerte der „Techies“ im Valley)? Es gibt viele Fragen und nur einen Weg, ernsthafte Antworten zu bekommen: Hinfahren.
5. Ist „disruptive change“ der Heilige Gral der Innovationsentwicklung?
Disruptiv steht für „störend“, „spaltend“ und auch für „Unruhe stiftend“. Wir sprechen also von der Annahme, andere Geschäftsmodelle bewusst kollabieren zu lassen, und von geheimnisvollem Selbstvertrauen. Dies mixen wir jetzt mit hoher Grundgeschwindigkeit und tatsächlicher Fehlerkultur. Nach dem Motto: Fehler passieren – wir sorgen dafür, dass jeder schnell davon erfährt. Gibt es diese Unternehmenskulturen auch bei uns? Sicher – aber wohl eher selten, denn meistens müssen Sie sich gegen Menschen und Geldgeber verteidigen, die „Over-Engineering“ durch die „Ultraeffizienzfabrik“ für normal und zukunftstauglich halten.
Wo sind denn die runtergekochten „Minimum Viable Products“ (MVP), die einfachen Lösungen, die direkt und unmittelbar in den Markt gehen? Ein Paradebeispiel ist der größte produzentenunabhängige Stahl- und Metalldistributor Klöckner & Co. Dort hat man das Silicon Valley nicht als typischer Tourist bereist (vier Tage und keine relevanten Erkenntnisse), sondern vor Ort Start-ups gefragt, wie sie denn den Stahlhandel zerstören würden, wenn sie könnten und wollten.
Mittlerweile baut das Unternehmen in Berlin ein eigenständiges Team auf und entwickelt, zusammen mit Etventure, die digitale Revolution, beispielsweise einen Verspätungsalarm für Stahllieferungen, da eine umfassende Warenverfolgung gar nicht relevant ist – MVP eben. Übrigens hat der KlöCo-Chef Gisbert Rühl auch schon einen zweistelligen Millionenbetrag für Klöckner.v, die eigene Venture-Capital-Gesellschaft, freigeschaufelt. Das zeigt, wie ein Player in einer konservativen Branche sich neu erfinden und damit seinen Fortbestand sichern kann. Aber solche Beweglichkeit kostet nicht nur Geld, sondern auch viel Überwindung und Unterstützung. Deshalb der Appell: Nehmen Sie sich Zeit zum Denken!