WeChat-Expertin: „Ich warne davor zu behaupten, dass WeChat im Westen gescheitert sei“

Janette Lajara hat mehrere Jahre in China gelebt und dort für OSK das Pekinger Büro geleitet. Sie hat den Siegeszug von WeChat in China von Anfang an miterlebt und erzählt im Interview, warum WeChat in Deutschland noch Zeit braucht.
Janette Lajara Ist Account Director bei OSK und hat jahrelang den chinesischen Markt beobachtet

Frau Lajara, in China läuft die App WeChat schon einwandfrei. Es gibt sie seit 2011. Warum ist der deutsche/europäische Markt noch nicht warm mit der App geworden? 

Immerhin gibt es bereits 100 Millionen User, die WeChat außerhalb Chinas nutzen. Trotzdem hat es WeChat nicht leicht auf dem internationalen Parkett. Das konnte man bereits 2013 erkennen, als Tencent versuchte, seine Super-App in den USA zu etablieren. Facebook, WhatsApp, iMessage und auch die E-Mail waren in diesem Markt bereits so stark etabliert, dass es keinen Platz und auch kein Bedürfnis für einen zusätzlichen Kommunikationsmessenger gab. Gleiches gilt für den Markt in Europa. In China hingegen waren westliche Messenger- und Netzwerkdienste größtenteils geblockt, SMS-Pakete zu teuer und die E-Mail-Durchdringung eher gering. Ein perfekter Nährboden für die Verbreitung von WeChat. Zudem: WeChat ist eine App, die ganz spezifisch für den Markt in China entwickelt wurde. Zwar funktioniert die App mit ihren Grundfunktionen in allen westlichen Ländern, dennoch bleibt Usern ohne chinesische Bankkarte eine Killerfunktion verwehrt: WeChat Pay. Denn es ist nicht möglich, den eigenen WeChat-Account mit einer nichtchinesischen Bank zu verknüpfen und somit den sehr komfortablen mobilen Bezahldienst der App zu nutzen.

Auch viele weitere Komfortfunktionen sind nur in China verfügbar, was weitere Gründe liefert, warum es die App außerhalb von China schwer hat.

Und ja, auch WeChat ist – wie viele andere Medienprodukte in China – stark zensiert. Aus Sicht von westlichen Nutzern kommen hier sicherlich Nutzungsvorbehalte ins Spiel.

Dennoch warne ich vor dem Urteil, dass WeChat im Westen „gescheitert“ sei. Sobald der Dienst sich für seine Nutzer außerhalb Chinas, vor allem in puncto mobile Bezahlmöglichkeiten und Services, öffnet und zugleich die Bereitschaft der Nutzer hierzulande steigt, könnte es einen erneuten Schwung geben.

Kann es daran liegen, dass womöglich Zensur und Überwachung durch die App in China vorgenommen wird?

Welche Informationen die App über ihre User sammelt und wie viel davon WeChat unter bestimmten Umständen mit der Regierung teilt, hat der Blog technode erst kürzlich zusammengestellt. Sie sind auch seit 2015 in den Nutzungsbedingungen für WeChat-User außerhalb Chinas enthalten und damit transparent. Auch wenn dies sicher nicht die Verbreitung in Europa oder den USA Chinas fördert, wird es nach unserer Einschätzung nicht maßgeblich über die Akzeptanz entscheiden.

Was ist der wesentliche Unterschied von WeChat zu anderen Messengern?

Erstens: WeChat ist nicht nur zum Chatten oder Bildertauschen da. Der User findet jeden Service, den er braucht, direkt in der App: Vergabe von Arztterminen, Bestellung des Hundefriseurs, Reservierung im Restaurant oder Kino. Andere Apps werden überflüssig. Kurz gesagt: WeChat ist die neue Startseite des mobilen chinesischen Internets.

Zweitens: WeChat hat es als einer der ersten Messenger geschafft, Unternehmens- und Privatkommunikation in einer App zu verknüpfen. Menschen tauschen sich in derselben Anwendung mit ihren Freunden aus, in der sie mit Marken interagieren. Eine Chance für Unternehmen, weswegen ein großer Teil von ihnen auf WeChat aktiv ist. Insgesamt gibt es gut zehn Millionen Unternehmensprofile in der App. Wer keinen WeChat-Account hat, ist in China unsichtbar. Deshalb ist die Plattform auch essenziell für ausländische Unternehmen, die in China aktiv sind.

Wie können Werbungtreibende und Unternehmen WeChat für sich nutzen? Und warum ist die Plattform besser als Facebook, Whatsapp und Co?

Für Unternehmen gibt es mehrere Möglichkeiten, WeChat für ihre Kommunikation zu verwenden. Zum einen können sie unterschiedliche Arten von Anzeigen buchen, die Nutzern in ihrem WeChat-Umfeld angezeigt werden. Werbeanzeigen können im WeChat-Newsfeed „Moments“ aber auch als Standardbanner in den Nachrichten von offiziellen Unternehmensaccounts geschaltet werden.

Neben dieser klassischen Variante der Marken-Kommunikation lohnt sich besonders die Zusammenarbeit mit Influencern, die WeChat als Plattform rege nutzen. Darüber hinaus sind sogenannte WeChat „Official Accounts“ populär, also Unternehmensseiten bzw. Markenauftritte. Beispiel Nike: Wer Nike auf WeChat folgt, erhält Zugang zu Sporttipps, Events, Laufrouten, Trainingsplänen und mehr. Durch Fitness-Kampagnen liefert Nike Mehrwert und bindet die Zielgruppe an sich.

Wie hat WeChat die chinesische Gesellschaft beeinflusst und könnte die App es auch in Europa beeinflussen?

Ich selbst habe WeChat während meiner Zeit in Peking intensiv genutzt – sowohl privat als auch im Arbeitsumfeld und bin bis heute mit meinen Freunden, Bekannten, Kollegen und Kunden über WeChat in Kontakt. Besonders bemerkenswert ist aber, wie sich die App im Berufsalltag durchgesetzt hat. Ohne WeChat läuft in China nichts mehr, die App ist absolute Grundvoraussetzung für die Kundenkommunikation und den Austausch mit Projekt- und Geschäftspartnern. Das Tempo ist dadurch immens gestiegen. Wer diese Geschwindigkeit nicht mitgeht, fällt negativ auf. Feedback wird meist innerhalb weniger Minuten erwartet.

Außerdem ist WeChat ein zentraler Kanal, um sich untereinander zu verbinden. In China ist es gang und gäbe, ein Gespräch mit der Frage zu beenden: „Darf ich kurz dein WeChat scannen?“ Zur Erklärung: Die App generiert für jeden Nutzer einen individuellen QR-Code. Andere User können den Code scannen und sich dadurch verknüpfen. Erste Visitenkarten sind im Umlauf, auf denen nur noch der WeChat-QR-Code abgedruckt ist.

Janette Lajara erlebt, wie WeChat die Kommunikationsgewohnheiten nachhaltig auf den Kopf gestellt hat. So ist sie während ihrer Zeit in Peking zur WeChat-Expertin geworden.