Der (zu) mächtige Kunde?

Des Kunden Macht oder Ohnmacht ist ein Dauerthema in den Diskussionen zur Entwicklung moderner Konsumgesellschaften. Der Entwicklungschef des einen deutschen Automobilherstellers, Klaus Fröhlich, rückte sie jüngst wieder einmal ins Zentrum des unternehmerischen Denkens und Handelns: „In the future, all aspects of our products – whether design, handling or everyday usage – will be modelled more closely than ever before on the customer`s needs.“ Der andere deutsche Automobilhersteller entlarvte derartige Verlautbarungen als reine Propaganda
Jürgen Häusler

Propaganda kommt von lateinisch propagare und meint „weiter ausbreiten, ausbreiten, verbreiten“. Laut Wikipedia bezeichnet der Begriff „einen absichtlichen und systematischen Versuch, öffentliche Sichtweisen zu formen, Erkenntnisse zu manipulieren und Verhalten zum Zwecke der Erzeugung einer vom Propagandisten oder Herrscher erwünschten Reaktion zu steuern“.

Ein großer Abgrund tut sich hier auf zwischen sicherlich wohlmeinenden Absichtserklärungen und der zynischen Logik eines zügellosen Gewinn- und Machtstrebens. Sicher zugespitzt. Und vielleicht nicht ohne weiteres repräsentativ. Aber wohl keine vernachlässigbare Ausnahme. Und damit kann über die konkrete Branche hinaus angesichts solcher Diskrepanzen gefragt werden: Ist der Kunde ein moderner Herrscher? Oder ist er mehr denn je ein hilfloser Beherrschter?

Beeindruckende Karriere des Konsumenten

In Analysen der Entwicklungsgeschichte kapitalistischer Gesellschaften taucht der Konsument von Anfang an und damit seit Jahrhunderten in der Diskussion auf, wenn auch nicht immer und vor allem zu Beginn sehr prominent. Alles in allem scheint er im Laufe dieser Zeit – vereinzelten kritischen Zwischenrufen zum Trotz – eine beeindruckende Karriere gemacht zu haben, wenn man den einschlägigen Geschichtsschreibungen zur Konsum- und Marketingwelt Glauben schenkt.

War er zunächst schieres Objekt, das zu funktionieren und den systemisch notwendigen Absatz zu ermöglichen hatte, wurde er in den gängigen Narrativen mehr und mehr zum handelnden, bedürfnisbefriedigenden Subjekt. Folgten Unternehmen zu Beginn kapitalistischer Entwicklung allmächtig ihrer binnenorientierten Produktions- und Gewinnlogik, so erscheinen sie in dieser Perspektive mehr und mehr getrieben von der Marktmacht der Kundenwünsche.

Marketing wird gegen Mitte des 20. Jahrhunderts zur Königsdisziplin in der Lehre und Praxis der Unternehmensführung. Kundenorientierung wird zur Leitwährung unternehmerischen Handelns, deren Wert kontinuierlich steigt. Der Kunde wird mächtiger, er wird bald zum sprichwörtlichen König. Am vorläufigen Ende der Geschichte – heutzutage? – herrscht er und dominiert das Marktgeschehen.

Der Kunde als König: Eine Bedrohung?

Wird hier eine glaubwürdige Geschichte erzählt oder handelt sich um eine Fata Morgana, die auch dadurch nicht realer wird, dass sie vielstimmig tagein und tagaus beschworen wird? Muss sich die Marketingwelt nicht vom Kunden fragen lassen: „Warum gibt es unter euch so viele, die ständig ‚Herr, Herr‘ im Mund führen, sich aber nicht im Geringsten nach dem richten, was ich sage?“ (Neues Testament).

Oder wäre es am Ende sogar noch eine tröstliche Perspektive, wenn die Kunden- und Marktsicht unsere Welt nur scheinbar zunehmend dominieren würde? Wäre eine Welt, in der Marketing wirklich zur Königsdisziplin in allen gesellschaftlichen Bereichen würde, eine Welt, in der Kunden tatsächlich mächtige Könige wären, nicht auch unerträglich?

Das zumindest legt das Beispiel der größten öffentlichen Bibliothek Skandinaviens in Aarhus nahe. Dort erschafft enthemmte Marketingorientierung gerade die „Bibliothek der Zukunft“ (Die Zeit). Diese wird unter dem Druck des Marktes und aufgrund der offensichtlichen Wünsche der Kunden zum „multiplen Kultur- und Veranstaltungsort“, was die Frage aufwirft: Und wo sind hier die Bücher? Denn wenn Kunden bestimmte Bücher dort über längere Zeit nicht ausleihen, werden sie im Namen der Kundenorientierung verramscht. Gibt es vielleicht so etwas wie den zu mächtigen Konsumenten?

Über den Autor: Jürgen Häusler war Chairman von Interbrand Central and Eastern Europe. Der Markenexperte betreute zahlreiche renommierte Unternehmen in der strategischen Markenführung. Er ist Honorarprofessor für Strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig.