Wie viel Push hält das Internet aus?

Push oder Pull sind plötzlich zum heißen Diskussionsthema unter Marketing-Experten geworden. Welche strategische Leitlinie verspricht den größten zählbaren Erfolg? Die Push-Freunde führen Argumente an, die sich in erster Linie auf die Gemütslage der Käufer beziehen.

Denn die kaufen nicht mehr so wie früher. Push, so begründen die Verfechter ihre Vorliebe, reißt die erlahmende Kauflust neu auf, rüttelt wach, lockt sirenenartig an, beendet die Langeweile, die viele satte, unlustige Konsumenten beschlichen hat. Und noch viel wichtiger: Es ermuntert sie, ihre zögerliche Haltung mit Tendenz zum Sparstrumpf in unseren unsicheren Zeiten aufzugeben und lustvoll begeistert dem Push-Marketing erliegen zu wollen.

Die Pull-Freunde heben warnend den Finger: Zu viel Druck, zu viel Belästigung, zu lautes Geschrei, bis hin zur Penetranz, lassen den Kaufwillen eher erstarren und führen zum inneren Widerstand. Der berühmte Satz: „Nicht mehr ich muss zur Marke passen, sondern die Marke muss zu mir passen“ beschwört eine neue mentale Geisteshaltung des Bürgers. Früher hatte er ständig Angst, ihm könnte in Sachen Konsum etwas entgehen. Heute ist er ein Ich-Ich-Ich-Typ, der kritisch, wählerisch, ja zu weilen zickig auf Offerten reagiert.

Vor diesem Hintergrund erhitzt sich der Streit, ob denn entweder Push- oder Pull-Strategie das probate Mittel ist, um einer nur mäßig florierenden Konjunktur in den Käuferseelen der Konsumenten zu begegnen. Und weil das auch noch pro Branche total unterschiedlich bedacht werden muss, haben sich klare Lager von Marketing-Überzeugungstätern gebildet. Das Problem: klare Effizienz-Beweise können beide noch nicht liefern.

Besonders delikat wird das Thema im Internet. Ob beim E-Commerce oder der werblichen Kommunikation im Internet. Hier helfen zunächst einmal nackte Zahlen: die jüngste Analyse der Sophoslab zeigt, dass 92,3 Prozent aller Mails, die zwischen Januar und März 2008 versendet wurden, Spam-Mails waren. In Worten zweiundneunzigkommadrei! Alle drei Sekunden, so Sophos, gibt es eine neue Website für Spam. Die IT-Sicherheitsexperten, die mit permanent verschärften Methoden an verbesserten Spam-Filtern arbeiten, können ein Lied davon singen.

Wie harmlos machten sich doch da die mit Direkt-Mails überfluteten Briefkästen der guten alten Tage aus, die seinerzeit zu großem Aufschrei führten. Heute kommen sie fast idyllisch und niedlich daher, mit ihren 3-4 bunten Prospekten, die unsere Tagespost bevölkern. Das erinnert an den alten Witz, dass man wegen der vielen Werbespots wohl in Zukunft die Werbeblöcke unterbrechen muss, um ein bisschen Programm zu erhaschen.

Zurück zum Internet. Droht uns hier eine ähnliche Invasion von Push-Werbung, die in Zukunft über die Websites rauscht? Die Grundhaltung der Internet-User wird unter Fachleuten mit „Lean-Forward“ Mentalität beschrieben. Sie steht im Gegensatz zu den entspannten „Lean-Back“ Typen der Old Media Nutzer. Wie, so heißt die kritische Frage, gehen die auf schnellste, zielgerichtete Information bedachten Surfer im Internet – denen Effizienz im Umgang mit ihrer Zeit alles ist – damit um, durch Push-Marketing in ihrer radikalen Zielstrebigkeit aufgehalten zu werden?

Die gebremst werden durch unbestellte, nicht angeklickte Werbestörer, Banner, Pop-Ups oder Video-Einspielungen. Wie reagieren diese Surf-Weltmeister der Ungeduld darauf? Nehmen sie es sportlich, wie einen Hürdenlauf, der sein muss – oder verfinstert sich ihr Gemütszustand bei jedem neuen Push-Angriff? Das Internet war nie ein Selbstläufer der im Wohnzimmer so einfach vor sich hin sendete, wie Radio oder Fernsehen. Beim Internet hat der Nutzer das Steuer aktiv in der Hand, er bestimmt jede Frequenz. Er sagt, wo es lang geht.

Wie also reagiert diese Spezies Mensch auf permanente, unbestellte Begegnungen mit Push-Marketing? Der Aufkleber „bitte keine Werbung einwerfen“ scheint hier ungeeignet. Auch die Fernseh-Vorwarnung „Vorsicht, jetzt kommt Werbung“ fehlt. Ungefragt und überfallartig bricht Push in die Surf-Rally oder auch den Surf-Spaziergang ein. Immer und überall. Auf jeder Website, die sich neu aufbaut, grüßen in Zukunft fröhlich die Pushs. Nicht etwa alle 20 Minuten, mal für 3-4 Minuten wie auf dem gemütlichen braven Fernsehschirm.

Die jüngste Hochzeit zur mengenmäßigen Steigerung von Internet-Advertising zwischen Google und Yahoo wurde ja nicht begonnen, um die soziale Verträglichkeit von Werbung in neue Formen zu gießen. Mit noch lächerlichen 10 Prozent Marktanteil vom dicken weltweiten Werbekuchen sehen die Onliner das Paradies der Werbedominanz erst noch vor sich. Wie also wird der Mensch in Zukunft darauf reagieren? Vor allem wenn in dieser Industrie die verlässlichen Effizienz-Beweise über die tatsächliche Werbewirkung noch ausstehen?

Oder behauptet jemand wirklich im Ernst, dass Klick-On oder Klick-Through bereits eine valide Währung darstellen? Die ersten erfolgreichen Versuche, von Push- auf Pull-Strategien zu wechseln sind unterwegs. Das passt auch zur interessanten Diskussion über die Rolle von „User Generated Content“. Wie viel redet der Verbraucher eigentlich mit? Wie viel beeinflusst er mit? Oder gestaltet er sogar schon mit? Und wann, so heißt die Frage, will er das auch in der Schlacht der Werbe-Unterbrechungen während seiner Surf-Tour durchs Internet?

Wann führt die Fülle und Dichte zur Belästigung, die eine Gegenreaktion provoziert? Und müssen wir wirklich erst wieder darauf warten, bis der Gesetzgeber regulierend eingreift, weil wir die Peinlichkeitsgrenze selbst nicht rechtzeitig erspürt haben. Die Spezialgeräte, die beim Fernsehen, die Werbeblöcke ausblenden haben wir schon. Die Überflutung der Menschen mit gut gemeinter Werbung scheint das Problem der Zukunft zu werden. Die ersten Werbekiller-Applikationen fürs Internet sind ja schon da.

Oder schaffen wir es tatsächlich, uns selbst als erfahrene Menschenkenner rechtzeitig das erträgliche Maß an Push-Menge auszurechnen und menschenfreundlich zumutbar zu portionieren? Ein wohl temperiertes harmonisches Duett zwischen Push und Pull zu schaffen? So dass alle damit leben können und Werbung als selbstverständlicher, nützlicher zuweilen sogar ein lieb gewonnener Teil unseres Lebens bleibt und dem Marketing hilft, in immer schwierigeren Märkten seine anspruchsvollen Ziele zu erreichen.

Über den Autor: Bernd M. Michael ist Präsident des Deutschen Marketing-Verband und Inhaber des BMM Büro für Markenarchitektur.