Wie digital ist unsere Gesellschaft wirklich?

Unsere Gesellschaft ist noch längst nicht so digital, wie gemeinhin angenommen wird. Drei Aspekte lassen zumindest Zweifel zu: Erstens ist für 39 Prozent der Bevölkerung die Webnutzung noch nicht selbstverständlich. Zweitens vertrauen 43 Prozent der Deutschen den Informationen im Internet eher nicht. Und drittens ist das Marketing in den Unternehmen, immerhin eines der Haupttreiber für die Digitalisierung, noch längst nicht so weit, wie eine aktuelle Studie nun herausgefunden haben will.

Von Christian Thunig

Wie kommt das? Das Marketing selbst und insbesondere die Kommunikationsexperten bewegen sich permanent und selbstverständlich im Web und posten dort mit Vorliebe in Facebook, Twitter, Google+ und natürlich seit neuestem auch in Pinterest. Das führt möglicherweise zu einer verzerrten Wahrnehmung. Eine Studie der EBS Business School und Camelot Management Consultants kommt nämlich zu dem Schluss, dass konsumnahe Hersteller wie Händler der Digitalisierung offen, aber beobachtend gegenüberstehen. Zwar sehen die 100 befragten Unternehmensvertreter, dass bei nachrückenden Generationen perspektivisch veränderte Verhaltensmuster zu erwarten sind. Aber aktuell dominieren E-Mail, Suchfunktionen und Internetpräsenzen.

Von echter digitaler Strategie kann aber keine Rede sein, so die Studienautoren. Und erst recht nicht von Social Media – schon aus Angst, nicht die Ressourcen und die Infrastruktur für einen intensiven Dialog mit dem Kunden zu haben. Prof. Dr. Roland Mattmüller, Lehrstuhlinhaber für Strategic Marketing an der EBS Business School, sagt: „Auch wenn einzelne Leuchtturmprojekte oder Medienberichte gelegentlich einen anderen Eindruck vermitteln mögen, zeichnet sich aktuell noch nicht ab, dass die Möglichkeiten der digitalen Transformation das Design des klassischen Marketing-Mixes in absehbarer Zeit nachhaltig verändern werden.“ Zudem seien die Aktivitäten des digitalen Marketings noch nicht wirklich ergebnisrelevant. „Einzelne Experimentierflächen im Bereich sozialer Netzwerke werden meist noch unkoordiniert nebeneinandergereiht und klassischerweise an vorhandene, traditionelle Konzepte in der IT oder im Marketing angedockt“, erläutert Dr. Harald Münzberg, Leiter des Kompetenzzentrums Marketing & Sales bei Camelot Management Consultants.

Gewaltiges Imageproblem

Auch auf Konsum- oder Nachfragerseite gibt es noch Lücken. Aktuell kommt die heute erschienene und jährlich stattfindende Studie der Initiative D21 „(N)ONLINER Atlas 2012“ zu dem Schluss, dass es den digitalen Graben innerhalb Deutschlands immer noch gibt: Zwar sind 75,6 Prozent online, aber immerhin 24,4 Prozent der Deutschen nutzen das Internet noch nicht. Der geringe Zuwachs von 0,9 Prozentpunkten vom vergangenen auf dieses Jahr zeigt auch, dass sich der Trend der vergangenen Jahre bestätigt und die Internetzuwachsraten zunehmend stagnieren. Nur wenige Deutsche haben innerhalb des letzten Jahres das Internet für sich entdeckt und auch die Anzahl der Nutzungsplaner ist erneut leicht gesunken.

Damit bleibt es bei „digitalen Außenseitern“, die das Deutsche Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) in einer Studie für das Sinus Institut sogar mit 27 Prozent beziffert. Das ist mehr als ein Viertel der Menschen in Deutschland. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um ältere Menschen, die zwar Zugang hätten, aber sehr unsicher im Umgang mit dem Internet sind. Immerhin 41 Prozent sind Digital Natives, also Menschen, die mit dem Internet und dem Computer groß geworden sind und das Worldwide Web als natürlichen Lebensraum begreifen, 20 Prozent haben sich reingefuchst, sind also Digital Immigrants. Damit wird sich das Problem „auswachsen“. Mit jeder weiteren Generation wird die Gruppe der Außenseiter kleiner.

Und schließlich hat das Web auch noch ein Glaubwürdigkeitsproblem: 66 Prozent vertrauen Informationen aus dem Radio, 59 Prozent aus dem Fernsehen, 50 Prozent aus der Presse und nur 27 Prozent vertrauen dem Internet und 43 Prozent gerade nicht. Kurzum: Das Internet, so muss man aus der Studie des Europabarometers aus dem letzten Herbst folgern, hat ein gewaltiges Imageproblem.

Fazit: Experten in Kommunikation und Marketing sollten sich bewusst werden, dass die Digitalisierung längst noch nicht so selbstverständlich ist, wie angenommen wird. Unternehmen bauen ihre Kapazitäten und Kompetenzen eher zögerlich auf und immerhin ein Drittel der Deutschen ist nicht selbstverständlich im Netz unterwegs. Das zeigt auch, dass viele Änderungen im Mediennutzungsverhalten viel langsamer kommen, als immer kolportiert wird. Das Mobile Web sollte bereits 2002 seine Blütephase erreicht haben. Was wir im Moment erleben, ist das Aufgehen der Blüte.