Wie bringt datengetriebenes Marketing Unternehmen voran?

Die unüberschaubare Flut an Daten aus dem Markt und innerhalb des Unternehmens zwingt immer mehr Marketer, ihren Marketing Mix zu überdenken. Wie können Big Data und Marktforschung dabei unterstützen? Vier Daten-Experten, Dr. Peter Aschmoneit (quantilope), Dr. Markus Eberl (Kantar Analytics Practice), Dr. Thomas Rodenhausen (Harris Interactive AG) und Daniel Virk (Mehrkanal GmbH), haben dazu in einem Roundtable diskutiert.

Vera Hermes: Wenn wir besser ausgebildete Marketer, hochintelligente Lösungen und neue Tools von Facebook und Google haben – was ist denn dann noch die Existenzberechtigung der Marktforscher?

VIRK: Dass der Marketer auch der Marktforscher beziehungsweise der Data Scientist ist, ist in der Praxis nicht so leicht abbildbar. Denn wir vergessen dabei das operative Tagesgeschäft. In der Realität hat der Marketer nicht die Kapazitäten neben dem Daily Business einerseits die vielleicht verstaubten Statistikkenntnisse aus der Uni hervorzuholen und andererseits die fortlaufende Entwicklung neuer Technologien im Unternehmen zu verankern. Die technologische und methodische Entwicklung im Marketing wird an Geschwindigkeit zunehmen. Es ist wichtig, am Ball zu bleiben, neue Ansätze von außen in die eigenen Strukturen zu integrieren und sich so weiterzuentwickeln. Der Status quo muss immer wieder in Frage gestellt und reflektiert werden. Stillstand ist Gift für datadriven Marketing. Auch das Thema Betriebsblindheit spielt hier eine gewisse Rolle. Deshalb werden externe Spezialisten häufig einen Mehrwert für das eigene Unternehmen bieten.

Die technologische und methodische Entwicklung im Marketing wird an Geschwindigkeit zunehmen (Virk)

Dr. Thomas Rodenhausen: Gegen Google und Facebook anzutreten ist nicht ganz einfach, denn diese haben die Gesamtsicht in vielen Bereichen. Für Google und Facebook gibt es wenig Konkurrenz, weil sie praktisch den Markt beherrschen. Man kann mit den entsprechenden Tools ganz einfach Sachen untersuchen. Aber man kann mit großen Datenmengen auch große Irrtümer begehen. Google und Facebook prägen mittlerweile unsere Weise, die Welt zu erkennen. Wenn ich etwas entgegensetzen und eine Kontrollinstanz dazwischen geschaltet haben will, dann ist die Marktforschung die Methode der Wahl. Wenn sich die Marktforschungsbranche nicht zu ungeschickt anstellt, dann wird das Geschäft zumindest seinen Bestand haben. Denn in Sachen Geschwindigkeit haben wir unsere Hausaufgaben gemacht – Ergebnisse über Nacht für einfache Fragen sind heute machbar.

Vera Hermes: Finden Sie, dass die Branche ihre USPs gegenüber den Marketern angemessen kommuniziert? Müsste da nicht eventuell ein bisschen mehr Imagearbeit geleistet werden?

DR. THOMAS RODENHAUSEN: Aus Verbandssicht ist es so: Wir müssen realistisch sein. Wie groß ist die Branche? Dadurch, dass die Branche fragmentiert ist in relativ viele kleine Unternehmen, ist es schwierig. Man kann keinen TV-Spot schalten, um zu erklären, wie toll Marktforschung ist und wie gut sie für die gesamte Volkswirtschaft ist. Das ist schon versucht worden. Trotz beschränkter Mittel leisten die Verbände hier aber hervorragende Arbeit. Ich glaube, dass diese kleinteilige Aufstellung der Branche eigentlich ganz gut zu der Methode passt, die wir haben. Jeder kann sich eigentlich hinsetzen und eine Marktforschungsuntersuchung machen, wenn er methodisch gut ausgebildet ist und weiß, wie man über Online-Access- Panels Respondenten rekrutiert. Diese Marktforschung „at your fingertips“ war vor zehn Jahren noch nicht möglich. Und das ist die große Chance, die wir haben. Für die großen Marktforschungsunternehmen ist es aber auch eine Herausforderung, dass die Markteintrittsschwelle weggefallen ist.

EBERL: Survey-Marktforschung wird sich definitiv weiter commoditisieren. Für viele Marketer reicht heute ein solides Verständnis von dem aus, was sie sich dann anhand von Tools selbst „zusammenklicken“ können. Es wird immer einen gewissen Prozentsatz des Marktes geben, der auf Face-to-Face-Befragungen und auf CATI (Computer Assisted Telephone Interviewing) nicht verzichten wollen wird. Aber Marktforschung und Marketing der Zukunft werden Insights und Entscheidungen aus Datenintegration und Analytics von existierenden und gemessenen Daten ziehen.

Vera Hermes: Kommen wir zu einem anderen Thema: Was macht die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) mit Data Science, Marktforschung und Co.?

RODENHAUSEN: Die klassische Marktforschung an sich ist bei diesem Thema immer noch im Vorteil, weil Datenschutz von jeher eine große Rolle gespielt hat und weil Daten nur im Aggregat weitergegeben werden. Was die Abgrenzung zum One-to-One-Marketing angeht, sind Probleme da. Gerade, wenn es um die Frage „Wem gehören die Daten?“ und um die Kontrolle der Datenströme geht. Grundsätzlich habe ich im Moment den Eindruck, dass in Sachen DSGVO eine Art Gnadenfrist läuft. Wenn sich das innerhalb von ein paar Monaten drehen wird, erwarte ich, dass es Facebook, Google und Co. am einfachsten haben werden, mit weißer Weste durchzukommen. Für andere kann das existenzbedrohend sein.

ASCHMONEIT: Die DSGVO war der erste Schritt und im nächsten Schritt kommt die ePrivacy-Verordnung. Die Grundidee von ePrivacy ist aus meiner Sicht eine Chance für die Marktforschung. Denn: Können die ganzen Performance Marketing Modelle noch weiterhin ihre Kommunikation aufrechterhalten? Oder entscheiden sich dann viele Nutzer, eben nicht mehr alle Daten preiszugeben beziehungsweise konstant mit Cookies belegt zu werden? Dann kommt Branding wieder mehr zum Tragen. Das ist ein Bereich, der von uns bereits sehr stark erforscht ist. Das heißt, man stützt sich zunehmend auf Befragungen, zum Beispiel mit impliziten Methoden, und erhält live Erkenntnisse über die Wirkung der Kommunikation.

VIRK: Wir sehen bei uns in der Erhebung der Daten seit dem Inkrafttreten der DSGVO keine Veränderung, weil Datenschutz bei uns bereits vor Inkrafttreten einem sehr hohen Standard entsprach. Die absolute Anzahl der Touchpoints und auch die Ausprägung der einzelnen Touchpoints haben sich bisher nicht verändert. Es werden immer noch genauso viele Cookies gesetzt, auch wenn der Layer jetzt ein bisschen größer ist. Wo die Unternehmen noch einen Unterschied verspüren, sind die Prozesskosten im Rahmen der Datenerhebung. Es muss nun deutlich mehr dokumentiert werden.

Vera Hermes: Werden Künstliche Intelligenz (KI) undMachineLearning (ML) ein Quantensprung für die Marktforschung sein oder sind das einfach gehypte Themen?

VIRK: Was in diesem Zusammenhang wichtig ist: Automatisierung bedeutet nicht gleich Autonomisierung. Das „Ding“ macht nicht alles alleine für mich – das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist, dass durch den Hype und Zukunftsutopien häufig vergessen wird, dass man auch hier im Kleinen anfangen und einzelne Prozesse durch Automation stützen kann. Es geht darum, fernab des Hypes konkrete Anwendungsfälle im Daily Business zu identifizieren und das Thema KI somit in die Breite zu tragen.

ASCHMONEIT: Einfache Verfahren des Machine Learning werden heute schon eingesetzt. Wenn wir beispielsweise Treiberanalysen von einer Zufriedenheit ausgehend rechnen, dann rechnen wir mit einem Random Forest. Das ist ein Verfahren des Machine Learning. Um über unterschiedliche Befragungen Erkenntnisse zu sammeln, kann künstliche Intelligenz sehr stark helfen. Um Insights zu bekommen, kann Künstliche Intelligenz durch die Fähigkeit, viele Daten strukturiert zu analysieren, ohne dass es menschliche Energie kostet, unterstützen.

EBERL: Die Methode an sich, in ihren Grundzügen, die gibt es auch bei Deep Learning schon seit 30 Jahren; neuronale Netze noch länger. Der Unterschied ist, heute gibt es entsprechende Rechenkapazität. Damit entwickeln sich Algorithmen so weiter, dass sie tatsächlich viel feiner und granularer werden können. Dadurch entstehen auf einmal neue Möglichkeiten, über mehrere Datenquellen hinweg Rückschlüsse zu ziehen und insgesamt mehr Datenmengen in kürzerer Zeit zu verarbeiten. Auf einmal ist es möglich, in kurzer Zeit viel komplexere Zeitreihenmodelle zu erstellen. Dadurch können wir zum Beispiel viel prädiktivere Marketing-Mix-Modelle entwickeln als früher. Gleichzeitig ist aber mit dem Begriff „Intelligenz“ auch die Hoffnung verbunden, die Maschine würde alles von selbst tun. Aber konzeptionell denken kann sie (noch) nicht: Es braucht immer noch eine menschliche Intelligenz, die die künstliche Intelligenz auf den richtigen Weg setzt. Dennoch ist ganz klar: KI und ML sind in heute und in Zukunft nicht mehr wegzudenken.

Vera Hermes: Welche Voraussetzungen müssen Marketer generell erfüllen, um professionelles, datengetriebenes Marketing zu betreiben?

ASCHMONEIT: Ich sehe drei Fähigkeiten für Marketer der Zukunft: technologische Kenntnisse, die Fähigkeit sich grundsätzlich in der digitalen Welt zu bewegen und die klassischen Skills. Technologische Fähigkeiten meinen den Umgang mit Daten oder der User Experience. Marketer sollten verstehen, was in der Technologie passiert. Diese Fähigkeiten werden zu einem gewissen Standard werden. Dann gibt es die Fähigkeit, sich in der digitalen Welt zu bewegen. Manche reden dabei von Digital Citizenship. Ich kann in der digitalen Welt kommunizieren, mit Kommentaren umgehen und darauf reagieren. Ich habe keine Angst vor neuen Sachen, ich gehe darauf zu. Zu den klassischen Skills zählen Netzwerken, Agilität, Kommunikation, Lernbereitschaft und Co.

VIRK: Unabhängig von den technologischen Fähigkeiten, denke ich an Motivation und Geduld. Als Marketer muss ich mich erst einmal darauf einlassen, diesen Weg zu beschreiten und bei der Entwicklung mitzugehen. Man ist nun mal nicht von heute auf morgen datengetrieben. Motivation ist ebenfalls wichtig, damit ich auch bei Rückschlägen, die sehr wahrscheinlich auftreten werden, am Ball bleibe und mich schrittweise weiter professionalisiere.

RODENHAUSEN: Was auch dazu gehört ist zu wissen, wo die Grenzen sind. Am Ende geht es für einen Marketer doch im Kern darum, seine Kunden, sein Produkt und Markt sowie Wettbewerb zu verstehen. Und all das, was mit Datenmodellen zu tun hat, ist eigentlich instrumentell dafür. Aber zu verstehen, dass Vorhersagemodelle auch ihre Grenzen haben und scheitern können, ist sehr wichtig.

EBERL: Zum grundlegenden Verständnis von Mess- und Modellierungsmöglichkeiten wird Marketing eine „digitale Literacy“ brauchen. Datenbasiertes Marketing ist ein immerwährender Prozess. Eine langfristige Roadmap hierfür zu planen und en passant kurzfristige Erfolge zu generieren, das wird eine der Führungsaufgaben der CMOs der Zukunft sein.

Vera Hermes: Im Moment ist das Smartphone Datenlieferant Nummer eins. Welche Datenquellen werden in Zukunft wichtig? Wo werden Marktforscher oder Data Scientists künftig ihre Daten her bekommen?

RODENHAUSEN: Von überall her – und das ist die Antwort. Das Smartphone ist mittlerweile ein wirklich persönliches Gerät; fast schon wie ein eigenes Körperteil. Deshalb kann ich Dinge, die auf dem Smartphone passieren, direkt einer Person zuschreiben. Das Smartphone ist mittlerweile zu einer Art Wahrnehmungsbrille geworden. Das heißt, ich kann sehen, was die Person interessiert, was sie sich anschaut und so weiter. Dann kommt auch noch die ganze Sphäre von Internet of Things dazu, wie der Kühlschrank oder der Fernseher. Dass diese Geräte, Maschinen und Maschinenumgebung Daten ohne Ende produzieren und sich das immer weiter beschleunigen wird, ist Fakt. Deshalb werden auch die Methoden und Tools immer weiter wachsen müssen. Die Daten kommen von überall her und auch der individuelle Zugriff wird besser werden. Es verändert sich also an allen Fronten.

ASCHMONEIT: Eine riesen Entwicklung, die hier gerade stattfindet ist „Speech“. Wir werden überall gehört – nicht nur vom Smartphone, auch von Alexa, Cortana und Co. So lassen sich im Offline-Bereich unglaublich viele Daten sammeln. Das ist eine rasante Entwicklung, die gerade erst begonnen hat. Heute sind die Modelle noch nicht so stark darin, alles Gesagte semantisch verarbeiten zu können. Aber wenn man sich beispielsweise anschaut, wie schnell Siri in den letzten Jahren gelernt hat, zeigt es, dass diese Entwicklung absolut auf dem Vormarsch ist. Es werden sich in Zukunft wahnsinnig viele und auch sinnvolle Datenströme ergeben, die wir nutzen können.

EBERL: Alle Touchpoints werden in Zukunft Daten liefern; auch zunehmend das Produkt selbst. Wichtiger als die Quelle ist aber, dass man aus all dem Text, der natürlichen Sprache, den Bild-, Video-, Bewegungs- und Produktnutzungsdaten diejenigen Daten filtern kann, die das Marketing effizienter und zielgenauer machen.

VIRK: Wenn wir einzelne Quellen betrachten, die bald kommen oder in näherer Zukunft für uns relevant sind, dann ist es auch meiner Meinung nach Speech. Aber auch die Daten, die wir rund um das Thema „Smart City“ generieren, werden zunehmen. Seien es Bewegungsdaten, Ströme oder die Gesichtserkennung von Digital-out-of-Home-Kanälen – es werden viele Datenquellen erschlossen werden, welche die Performance von Offline Maßnahmen ein stückweit messbarer machen. Mit diesen zwei Punkten sollten wir uns in Zukunft auseinandersetzen und festlegen, wie wir diese Quellen integrieren und interpretieren können und wollen.