Werden Konsumenten durch Suchmaschinen und Filterfunktionen der sozialen Medien entmündigt?

Im Diskurs über die vermeintliche Diktatur von Filterblasen, Algorithmen und personalisierten Diensten wird der Eindruck erweckt, dass sich Mensch und Maschine in einem Teufelspakt gegenüberstehen. Zu den prominentesten Vertretern zählt der Filterbubble-Autor Eli Pariser. Angeblich werden wir durch Personalisierungsfunktionen des Netzes sukzessive entmündigt. Das selbstbestimmte Ich erlebt eine Umformung zu einem fremdbestimmten Werbemedium. Im Klagechor der digitalen Skeptiker wird davor gewarnt, sich den Einflüsterungen der Reklame willenlos zu ergeben. Am Ende sei es nicht mehr möglich, freie Entscheidungen zu fällen. Sollten wir als Alternative weiter auf die Alzheimer-Dienste von Call-Center-Anbietern oder pauschale Werbe-Berieselung setzen? Jeder Mensch filtert und vergisst Informationen – ansonsten würden wir im Wahnsinn enden.

Von Gunnar Sohn

Jeder konstruiert seine eigene Wirklichkeit, konsumiert, liest und liebt nach bestimmten Mustern und Lebenserfahrungen. Was Algorithmen leisten, sind Optionen, Wahrscheinlichkeiten, Vorschläge, Hinweise und Anregungen. Niemand ist diesen Diensten willenlos ausgesetzt. „Die meisten Diskussionen zur Rolle von Filtern haben den Fehler, dass sie von Information als etwas Gegebenem ausgehen“, schreibt der Berater Christoph Kappes in einem Beitrag für die Zeitschrift „Merkur“. Im Hinblick auf Neues sei die Theorie von der Filterbubble sogar fachlich falsch: „Nehmen wir die Personalisierung bei Textilwaren. Hier kann eine Maschine nicht vorhersagen, ob ich eine bestimmte Art von Bikini in der nächsten Sommersaison kaufen werde. In der Vorsaison galten vielleicht andere Regeln oder ein anderes Modebewusstsein. Die Maschinen müssen also immer wieder Neues in ihre Analysen einbeziehen, um das Interesse der Konsumenten zu testen. Genauso ist es mit politischen Ereignissen. Wenn etwa Themen wie die Sarrazin-Debatte oder der Fukushima-Atomunfall in den Nachrichten auftauchen, ist es für Maschinen nicht möglich zu sagen, was der Nutzer tun soll. Diese Ereignisse sind in ihrer Singularität einzigartig“, erklärte Kappes in einem Telefoninterview.

Es ist ein simpler Trick der Bubble-Fraktion, Maschinen, Software und Algorithmen in ihrer Wirkung und Bedeutung in ungeahnte Fallhöhen zu schrauben, um entsprechend kritischer den Diskurs vorantreiben zu können. Es könnte sich natürlich auch um ein psychologisches Syndrom handeln: „Wir nennen das die Animation des Toten. Menschen gehen offensichtlich viel lieber und leichter mit Lebendigen um als mit Toten. Wenn ich mir meinen Dosenöffner, der gerade abgerutscht ist und mich verletzt hat, als beseelt denke, kann ich ihn beschimpfen. ‚Du blöder Dosenöffner. Irgendwann schmeiß ich Dich in den Müll‘. Das macht man mit seinem Laptop, mit seinem Auto und generell mit Technik. Dabei weiß jeder, dass die toten Dinge mich gar nicht verstehen können“, sagt Dr. Gehard Wohland, Leiter des Instituts für dynamikrobuste Höchstleistung.

„Wer einen Schuldigen in der Maschinenwelt verortet, unternimmt keine weiteren Denkanstrengungen mehr. Maschinen, Algorithmen und Software sind aber keine Personen. Maschinen sind immer Werkzeuge von Menschen. Auch der Algorithmus wird von Menschen gemacht und benutzt. Niemand kann mich daran hindern, einen Algorithmus zu programmieren, der vielleicht besser ist als das, was Google und Facebook auf den Markt bringen. Das ist ein sinnvoller Standpunkt“, erklärt Wohland. Wer von bösen, manipulativen und bedrohlichen Technologien redet, stehe sich selber im Weg, zu klaren Erkenntnissen zu kommen. Es komme nur Unsinn heraus. Eine Simplifizierung der Maschinenwelt bringe uns nicht weiter.

Die Bubble-Rhetoren unterschätzen die Kompetenz der vernetzten Verbraucher. „Nutzer teilen Inhalte nicht, wenn sie ihnen nicht vertrauen“, schreibt Salima Richard in dem Beitrag „Psychologische Studie: Warum wir Inhalte im Netz teilen“. Wer dem Kunden nicht regelmäßig Mehrwert bietet, gerate schnell in Vergessenheit. „Konsumenten wollen wichtige Informationen, besondere Angebote und die Möglichkeit, andere Nutzer mit ähnlichen Interessen zu treffen. Bietet man das nicht, sehen sich die Fans bei anderen Marken um“, sagt Richard. Hohle Phrasen der Marketingabteilungen laufen in sozialen Netzwerken zunehmend ins Leere. Führungskräfte, die noch daran glauben, dass die Online-Märkte dieselben seien, die einst ihre dümmliche Fernsehwerbung ertragen haben, machen sich immer noch etwas vor. „Wir haben bei der xy-Schlag-mich-tot-Technologie richtungsweisende Entwicklungen mit Innovationskraft gekoppelt, um effiziente und effektive Prozesse zu ermöglichen sowie Kosten zu senken. Mit High-Perfomance-Lösungen steht bei uns der Kunde im Mittelpunkt, um Wettbewerbsvorteile zu generieren, sich gut aufzustellen und im Bereich der Prozessintegration einen wichtigen Schritt in die Zukunft zu machen.“ Wer diese Botschaften ins Web 2.0 aussendet, erntet kollektive Nichtbeachtung.

Wer sich in der Medien- und Informationsgesellschaft bewegt, weiß um den besonderen Wert seiner persönlichen Daten. Er entscheidet selbst, wie viel er bereit ist, von sich preiszugeben, um von Angeboten zu profitieren, die für ihn relevant und nützlich sind. Der Wunsch nach einer Personalisierung von Unterhaltungsangeboten, Diensten und Produkten lässt sich in den meisten Fällen nur über die Weitergabe und Verwendung von Nutzerprofilen erfüllen: Wir können nicht das eine ohne das andere haben. Besonders die Beziehung zwischen Konsument und Medienwirtschaft wird noch stärker als bisher auf diesem Tauschgeschäft beruhen. Entertainment und Content werden mit der Preisgabe persönlicher Informationen bezahlt. Entscheidend dabei ist, dass für den Kunden der Nutzen aus diesem Geschäft überwiegt, Leistung und Gegenleistung zumindest im Einklang stehen. Das hat Professor Wolfgang Wahlster vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) sehr schön auf den Punkt gebracht: „Man muss seine privaten Vorlieben mit anderen teilen, wenn man denn besser bedient werden wolle. Wie sonst könne einem im Tante Emma-Laden ein neuer Bordeaux zur Verkostung vorgeschlagen werden, wenn man dort nicht wisse, dass man als Kunde gerade auf Rebsorten aus dieser Weinregion besonders erpicht sei.“