Wenn der Kunde auf der Strecke bleibt

Eins oder Null: Die digitale Welt kennt nur diese Entscheidung. Google Brille, Air View - alles läuft längst digital. Doch die Branche sind unterschiedlich weit in ihrer Entwicklung. Eine Studie zeigt, wer vorne liegt.

Die Luft wird enger: Noch sind Banken und Versicherungen führend, wenn es um die Digitalisierung all ihrer Geschäftsprozesse geht – also den Einsatz von IT oder neuen Medien. Auf der Überholspur nähert sich jedoch eine andere Branche: Die europäischen Autobauer und Zulieferer sind im vergangenen Jahr mit gewaltigen Anstrengungen auf Platz zwei vorgefahren. Das ist das Ergebnis des „Industry Digitization Index 2012“ der Strategieberatung Booz & Company, der Handelsblatt Online vorab vorliegt.

Die Studie zeigt zudem, dass die Unternehmen in allen 15 untersuchten Branchen in der Vergangenheit sehr einseitig in die Technik investiert haben: Priorität hatte in der Vergangenheit vor allem der Ausbau von Serverparks & Co. „Da ergaben sich relativ schnell Kostenvorteile“, sagt Alex Koster, Partner bei Booz & Company. Bei einigen Branchen hat sich diese defensive Strategie gerächt: Die Medienbranche etwa, die im Vergleich zum Vorjahr von Platz drei auf vier fiel, sei von reinen Online-Playern geradezu überrollt worden, sagt Koster. „Die Unternehmen dort müssen sich jetzt rasch transformieren, das ist zum Teil ein richtiges Ankämpfen.“

Derzeit setzen die Unternehmen auch bei Beziehungen zu den Kunden verstärkt auf Digitalisierung. Erst spät entdeckten sie, dass digitale Werkzeuge von der Ansprache über das Shoppingerlebnis bis zur Abwicklung des Kaufes einige Chancen bieten, sagt Koster: „Die Unternehmen holen hier massiv auf, sind aber immer noch überwiegend unterrepräsentiert.“ Was diesen Bereich angeht, zeigt der Digitalisierungsindex von Booz quer über alle Branchen gerade einmal 16,1 von 100 möglichen Punkten. Von niedrigem Niveau aus gelang hier immerhin das stärkste Wachstum mit einem Plus von 13 Prozent. Zum Vergleich: Bei der Infrastruktur liegt der Index schon bei über 90 Punkten und bietet kaum noch Luft für Verbesserung.

Im Durchschnitt stieg die Digitalisierung in der Industrie um 1,8 Indexpunkte und damit moderat an. Für die Studie verwendeten die Berater öffentlich zugängliche Daten von Eurostat und sortierten sie nach vier Kriterien. Neben Infrastruktur und Kundenbeziehungen untersuchten sie, wie sehr sich Unternehmen in der Beschaffungsphase des Geschäfts auf die IT verlassen und wie stark die digitale Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens und gegenüber Zulieferern ausgeprägt ist.

Vorsprung von Banken und Versicherungen nur gering

Die Automobilindustrie konnte im Vergleich zum Vorjahr besonders bei den Beziehungen zu den Kunden punkten, die nach Ansicht von Booz & Company stärker digitalisiert wurden. Die Studie lobt etwa neue Web-Anwendungen, die es Nutzern ermöglichen, ihr Wunsch-Auto in Farbe, Modell und Ausstattung zu simulieren.

Zudem habe sich die Online-Betreuung nach dem Kauf verbessert. Daneben honoriert der Index, dass die Branche zunehmend auch Carsharing- und Elektromobilitätskonzepte entwickelt und in die Tat umsetzt. Falls diese Entwicklungen anhalten, könnte die Branche im Verlauf dieses Jahres die Finanzdienstleistungen als Spitzenreiter im Index ablösen.

Banken und Versicherungen haben nur noch einen geringen Vorsprung. Die Branche profitierte von vorneherein von einem wichtigen Startvorteil: „Das Servicegeschäft mit Finanzprodukten ist einfacher zu digitalisieren“, sagt Koster. Dazu kam, dass auch hier früh Direktbanken auftraten, die die etablierten Institute unter Druck setzten und Innovationen forcierten.

Der nächste große Schritt für die Banken wird jetzt der Umgang mit dem immer noch großen Filialnetz sein – die Automobilbranche steht mit einer Vielzahl von Vertriebsstandorten vor einer ähnlichen Herausforderung, wenn es um ein Mehr an Digitalisierung geht: „Es stellt sich die Frage, ob die Unternehmen die Rolle und Funktion von Filialen und Händlern neu definieren können“, sagt Koster. In der Sprache der Berater ist dieser „konservative Vertriebsmodus“ die nächste große Hürde.

Die Berater erwarten, dass sich die Reihenfolge der Wirtschaftszweige innerhalb des Industry Digitization Index in den kommenden Jahren verfestigt. Dass einige Probleme strukturell schwer zu überwinden sind, zeigt das Beispiel der Hotel- und Restaurantbranche: Die Unternehmen tun sich immer noch schwer – auch wenn ihnen im Vergleich zum Vorjahr der drittgrößte Fortschritt unter den 15 untersuchten Branchen gelang. „Das bleibt ein stark fragmentiertes Umfeld, da fehlen Mittel und Strukturen, um den großen Schritt zu machen“, sagt Koster.

von Manuel Heckel, Quelle: Handelsblatt Online