Was der Megatrend Streaming für Marken bedeutet

Streaming ist das neue Fernsehen. Werbetreibende müssen reagieren und neue Präsentationsmöglichkeiten ausloten. Drei Optionen sind besonders vielversprechend.
TV mit digitaler Aussteuerungsmöglichkeit: Mit einer CTV-Brandingkampagne hat die Deutsche Bank die Streamingdienste RTL Plus und Joyn mit Pre-Roll Ads bespielt (© Adition Technologies)

Von Karsten Zunke

Brutal, blutig und beliebt – das ist „Squid Game“. Nicht ohne Stolz verkündete Netflix Mitte Oktober auf Twitter, dass bereits 111 Millionen Accounts weltweit diese mörderische Serie eingeschaltet hatten. Damit ist es das bisher erfolgreichste Format der ohnehin erfolgsverwöhnten US-amerikanischen Streaming-Plattform. Und es zeigt, wie sehr Streaming überall auf der Welt gefeiert wird. Corona hat der Entwicklung einen deutlichen Schub verliehen.

Auch in Deutschland boomt Streaming wie nie: Laut einer Studie von Integral Ad Science schauen inzwischen 69 Prozent der Deutschen Netflix und rund jeder Zweite Amazon Prime (46 Prozent). Ermöglicht wird diese Entwicklung vor allem durch die rasante Verbreitung internetfähiger TV-Geräte. Daten der AGF zufolge verfügt mittlerweile knapp jeder zweite Haushalt in Deutschland (47,2 Prozent) über ein mit dem Internet verbundenes Fernsehgerät. In den vergangenen drei Jahren hat sich dieser Anteil nahezu verdoppelt – Tendenz steigend.

Streaming-Angebote und Mediatheken werden entsprechend gern auf dem „Big Screen“ genutzt, dazu zählen auch die Angebote der TV-Sender: Im Rahmen der AGF-Studie „TV-Plattform 2021-I“ gaben 64,3 Prozent der Befragten an, Online-Angebote der Broadcaster gern auf dem Big Screen zu sehen.

Quelle: Convergence Monitor 2021 der AGF

Die AGF Videoforschung weist mittlerweile monatliche Streaming-Hitlisten aus. Sie listen auf, welche TV-Sendungen in diesem Zeitraum die höchsten Streaming-Nettoreichweiten je Anbieter hatten. Außerdem zeigen sie, wie viel Nettoreichweite eine im linearen TV ausgestrahlte Sendung durch Streaming hinzubekommen hat. Das heißt: Werbetreibende können über gestreamte TV-Sendungen ihre Kampagnenreichweite erhöhen und erreichen sogar jene Zielgruppen, deren Sehgewohnheiten sich geändert haben – weg von der Programmzeitschrift, hin zu Inhalten auf Abruf. Willkommen in der Zukunft des „Gernsehens“.

Adressable TV auf dem Vormarsch

Die Digitalisierung des Big Screen führt gleichzeitig zu einer besonderen Werbemöglichkeit, die das lineare TV mit den Vorzügen eines digitalen Mediums verschmilzt. Mit dem sogenannten Addressable TV (ATV) kann digitale Werbung im linearen Fernsehen ausgespielt werden, beispielsweise indem digitale Banner den linearen TV-Content überlagern – entweder statisch, dynamisch oder interaktiv.

Seit Kurzem ist in den Inventaren von RTL Deutschland und Seven.One Entertainment auch ein programmatischer Spotaustausch innerhalb einer Werbeinsel möglich. Auf diese Weise können von unterschiedlichen Zuschauergruppen in der gleichen Sendung zur gleichen Zeit verschiedene Werbespots gestreamt werden. Damit erschließt sich das klassische Fernsehen völlig neue Targeting-Möglichkeiten, die bisher rein digitalen Kanälen vorbehalten waren. Ohne großes TV-Budget können sich neue Firmen – zum Beispiel regionale Anbieter oder KMU – in TV-Umfeldern präsentieren.

Welche Möglichkeiten gibt es dafür?

Option 1: vom Boom der OTT-Inhalte profitieren

Insbesondere der Boom des Over-the-top-Content (OTT) treibt die Entwicklung in dem neuen Werbemarkt voran. Gemeint sind damit alle Inhalte, die über das lineare Fernsehen hinausgehen und via Internet übertragen werden. Häufig handelt es sich um Streaming-Inhalte von TV-Anbietern. Zuschauer können die digitalen OTT-Inhalte auf Tablets oder Smartphones schauen.

Aber meist werden sie über einen internetfähigen Fernseher (Smart-TV) oder daran angeschlossene internetfähige Zusatzgeräte abgerufen. In diesem Fall ist oft von Connected TV (CTV) die Rede. Diese Darstellung auf dem Big Screen ist für Werbetreibende besonders interessant und sie eröffnet spannende digitale Werbemöglichkeiten. So hat kürzlich Warsteiner mit einer CTV-Kampagne auf Samsung-Smart-TVs ausschließlich Zuschauer*innen angesprochen, welche die TV-Spots der Marke im klassischen TV nicht gesehen hatten. Auf diese Weise steigerte die Biermarke ihre Nettoreichweite auf dem TV-Bildschirm. Ein Beispiel, das Schule machen wird.

Neben einer Reichweitenergänzung funktionieren CTV-Kampagnen eigenständig ebenfalls sehr gut, wie die Deutsche Bank gezeigt hat. In einer zweiwöchigen Video-Branding­Kampagne hatte das Geldinstitut auf den Streamingdiensten RTL Plus und Joyn Pre-Roll Ads ausgespielt. Das Besondere: Die Kontaktklassen der Videospots wurden programmatisch und vermarkterübergreifend optimiert. Die Kampagne zeigt, dass sich die realisierbaren Aussteuerungsmöglichkeiten den gewohnten Optionen des programmatischen Display-Advertisings deutlich annähern und die Zielgruppenansprache auf dem TV-Bildschirm immer ausgereifter wird.

Auch das Nutzungsverhalten spielt Werbetreibenden in die Hände: Eine aktuelle Studie des Technologieanbieters Criteo bestätigte nicht nur die seit Pandemiebeginn stark gewachsene Nutzung kostenpflichtiger Streamingdienste wie Netflix & Co.; Knapp die Hälfte der Befragten (45 Prozent) gab auch an, mehr kostenlose – also werbefinanzierte – Angebote zu nutzen.

Die Studienteilnehmer*innen zeigten generell eine hohe Präferenz gegenüber werbefinanzierten Streamingdiensten: 57 Prozent würden sich für ein werbefinanziertes Angebot entscheiden, um Geld zu sparen. Besonders spannend: Drei Viertel aller Befragten sagten, dass sie die gleiche E-Mail-Adresse nutzen, um sich für Streamingdienste anzumelden und online zu shoppen – das ist grundsätzlich eine Chance für Marketer, einen 360-Grad-Blick auf den Nutzer*innen zu entwickeln und Videonutzung sowie Einkaufsverhalten in ihren Strategien zu verknüpfen.

Option 2: auf Streaming-Plattformen präsentieren

Auch abseits der klassischen TV-Formate ergeben sich durch den Megatrend Streaming völlig neue Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen. Viele Marken fühlen sich beispielsweise auf werbefinanzierten Streaming-Plattformen gut aufgehoben – auch wenn die dortigen Inhalte nicht von renommierten TV-Anstalten, sondern von Nutzer*innen selbst generiert werden.

Influencer*innen erreichen dort ein großes Publikum und sind daher für Werbetreibende interessant. Platzhirsch ist Youtube. 84,5 Prozent aller, die mindestens einmal pro Monat Videos kostenlos über soziale Netzwerke konsumieren, schauen Youtube. Das zeigt der aktuelle „Convergence Monitor 2021“ der AGF. Auch auf Facebook und Instagram werden Videos immer beliebter. Das aufstrebende Netzwerk Tiktok wurde erstmals erhoben und erzielte aus dem Stand eine Nutzungsquote von 16 Prozent. Werbetreibende können auf solchen Plattformen mit kostenpflichtigen Kampagnen, Influencer-Kooperationen oder eigenen Accounts und entsprechenden Markeninhalten Präsenz zeigen.

Wie vielfältig die Werbemöglichkeiten rund um das Streaming sein können, verdeutlicht Twitch: Das zu Amazon gehörende Portal ist in der Computerspieleszene verwurzelt. Mittlerweile lassen sich die Darsteller*innen aber auch beim Kochen und Basteln über die Schulter schauen, DJs legen für ihre Fans auf und Künstler malen vor Publikum Bilder in Aquarell-Technik.

Bekannt ist die Plattform für ihre Livestreams, aber auch auf Abruf stehen viele Inhalte bereit. Pro Tag zählt Twitch nach eigenen Angaben 30 Millionen verschiedene Besucher, mehr als sieben Millionen Creators sind jeden Monat live. Für Marken besonders interessant sind hier die Themen Esports und Games-Marketing. Die großen Gaming-Zielgruppen interessieren sich für Versicherungen, technisches Equipment, Studio-Ausstattung, Power Drinks, Nahrungsergänzungsmittel, Lieferservices und vieles mehr.

Um sich als Marke in diesem Zusammenhang ins Gespräch zu bringen, gibt es mehrere Möglichkeiten: Bei Gamer*innen können etwa Kleidung und Hintergrund gut als Werbefläche genutzt werden. Produktplatzierungen von Getränken oder Energieriegeln sind ebenso verbreitet wie das Bewerben des eingesetzten Equipments. Für Esports-Übertragungen greifen die bekannten Formen des Sponsorings.

Option 3: Produkte und Marken live inszenieren

Insbesondere das Live-Streaming birgt große Potenziale für Unternehmen – sowohl für das Marketing als auch für den Vertrieb. So haben Live-Streams ihre Tauglichkeit für Produktpräsentationen schon mehrfach unter Beweis gestellt.

Als beispielsweise der Autobauer Porsche seinen E-Rennwagen 99X Electric erstmals via Twitch live vorstellte, waren in diesem einen Kanal fast eine Million Zuschauer weltweit am Computerbildschirm dabei. Gleich eine komplette Produktoffensive startete im vergangenen Jahr der Konkurrent BMW Motorrad. Da Vor-Ort-Präsentationen pandemiebedingt ausfallen mussten, setzten die Münchner auf digitale Medien. Für 17 Modelle produzierte das Unternehmen spezielle Live-Streams, Storytelling-Formate und Kurzvideos. Allein über die Kanäle Tiktok und Instagram Reels erzielte die Marke 15 Prozent der Gesamtreichweite ihrer digitalen Werbemaßnahmen. Insgesamt erreichte die digitale Produktoffensive 111 Millionen Kontakte und 4,4 Millionen Interaktionen.

Für Marken sind Influencer*innen mit ihren großen Fan-Gemeinden auf Youtube, Twitch, Instagram und Tiktok immer öfter der Schlüssel zur Zielgruppe. Zahlreiche Agenturen haben sich bereits darauf spezialisiert, Werbetreibenden passende Influencer*innen für die jeweiligen Netzwerke zu vermitteln.

Und der Streaming-Trend geht weiter, er bewegt mittlerweile sogar komplette Absatzmärkte. So haben während der Corona-Lockdowns viele Einzelhändler aus der Not eine Tugend gemacht und via Live-Stream Produkte verkauft, die sie dann ausgeliefert oder zur Abholung angeboten haben.

Dieses sogenannte Live-Shopping erfreut sich in Asien schon seit Jahren großer Beliebtheit und dürfte auch hierzulande nach dem Ende der Pandemie­ Bestand haben. Entsprechend stellen sich die Märkte auf diese Entwicklung ein. So verkündeten erst kürzlich der Live-Video-Shopping-Anbieter Bambuser und die Digitalagentur Oddity eine Partnerschaft. Die Agentur möchte für ihre Kunden künftig Live-Video-Shopping-Projekte ganzheitlich betreuen und der Streaming-Anbieter strebt die Expansion in den DACH-Markt an. Beide sind davon überzeugt, dass Live-Shopping zu einem festen Bestandteil im europäischen E-Commerce werden wird.

Auch bei Otto scheint man dies für möglich zu halten. Ende 2021 testete das E-Commerce-Unternehmen diese neue Art des Online-Einkaufs mit einer eigenen Live-Shopping-Show. In 20-minütigen Videos werden zu bestimmten Terminen auf der Website und in der App von Otto Produkte präsentiert. Die Artikel werden unter dem Video über Produktkacheln eingebunden und können per Klick direkt in den Warenkorb gelegt werden. Während des Livestreams können Zuschauer Fragen über einen Chat stellen. Die erste Show kann bereits als Erfolg verbucht werden: Mehr als 32.000 Menschen schauten live oder on demand zu – mit einer durchschnittlichen Viewtime von sechs Minuten.

Diese Entwicklungen zeigen: Streaming bewegt die Märkte – und es verändert die Möglichkeiten für Marketing und Vertrieb. Wer es noch nicht getan hat, sollte sich jetzt damit auseinandersetzen. Denn eines ist schon heute klar: Egal ob mit oder ohne Pandemie – der Trend zum Streaming bleibt.

Der Artikel erschien zuerst in der Dezember-Printausgabe der absatzwirtschaft.