Warum Marketingtheorie und Praxis oftmals keine Freunde sind

Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit, Selbstbild und Fremdbild des Marketing-Managements klaffen in der ökonomischen Realität offenbar weit auseinander. Worin liegen die Ursachen für den Bedeutungsverlust des Marketings in Unternehmen?
Prof. Dr. Marco A. Gardini ist Professor für Marketing, Tourismus und Internationales Hospitality Management an der Hochschule Kempten und in verschiedenen Beiräten diverser privater Unternehmen und öffentlicher Institutionen aktiv. (© privat)

Von Marco A. Gardini

Warum sind manche Unternehmen erfolgreich und manche Unternehmen nicht? Die Ergebnisse unzähliger Studien aus der Erfolgsfaktorenforschung stimmen über Jahrzehnte hinweg darin überein, dass erfolgreiche Unternehmen über ein ausgeprägtes marktorientiertes Selbstverständnis verfügen, den Kundennutzen in den Mittelpunkt aller Unternehmensaktivitäten stellen und ihre Marketingstrategien konsequent verfolgen und umsetzen.

Seit einigen Jahren scheint diese Gewissheit und Gesetzmäßigkeit jedoch ins Wanken geraten zu sein und so wird Marketing zunehmend weniger als Führungsphilosophie verstanden. Vertrieb ist wichtiger als Marketing, Kosten wichtiger als Marke, Profitabilität wichtiger als die Kundenbeziehung, so könnte man den Dreisatz des Bedeutungsverlustes des Marketings auf einen einfachen Nenner bringen. Marketing als Stimme des Kunden im Unternehmen, als treibende Kraft hinter innovativen Produkten, Dienstleistungen oder Geschäftsmodellen beziehungsweise Marketing, verstanden als kundenorientiertes Konzept der Unternehmensführung, steht immer mehr in der Beweispflicht und viele Unternehmen halten offensichtlich die Beiträge des Marketings zum Unternehmenserfolg für überschaubar.

Verkehrte Welt

Peter Drucker und Philip Kotler waren immer der Ansicht, dass der wahre Zweck eines Unternehmens darin bestehe, Kunden zu gewinnen und zu halten. Viele Managerinnen und Manager würden das auch heute noch unterschreiben. Allerdings handeln sie nicht danach und so stehen für viele Unternehmen, Investoren und Anleger vor allem Umsätze, Gewinne und Renditen im Fokus und nicht die Qualität der Kundenbeziehung. Zahlreiche Unternehmen entwickeln denn auch oftmals eine recht merkwürdige Auffassung davon, was eine gute oder zufriedenstellende Beziehungsqualität – von einer überragenden will ich hier gar nicht sprechen – ausmacht. So wird bei vielen Telekommunikations- und Kabelunternehmen nicht nur die langjährige Loyalität der Kunden mit höheren Preisen bestraft, sondern sie zwingen ihre Bestandskunden darüber hinaus in eine dauerhafte Kündigungs- und Neuabschlussschleife, um Preisanpassungen überhaupt realisieren zu

können, oder in einen unerfreulichen Telefonmarathon mit dem jeweiligen Callcenter-Dienstleister, wo ein Prozessstandard offenbar darin besteht, erst beim dritten Mitarbeiter preisliche Zugeständnisse zu machen.

Auch Verlage ziehen bei der Neukundengewinnung alle Register, entwickeln jedoch für ihre Bestandskunden wenig Ideen und Begeisterung. Auch nach mehr als 30 Jahren treuer Leserschaft scheint sich die goldene Regel zwischenmenschlicher Beziehungen, „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“, in der Verlagswelt nicht herumgesprochen zu haben. Ziemlich absurd möchte man meinen, eine verkehrte Welt, die Neukunden besser behandelt als langjährige Bestandskunden und die ziemlich genau das Gegenteil von dem ist, was in Marketingvorlesungen und -kursen weltweit gelehrt wird.

Bewusste Ausnutzung und Verschleierung

Gerne werden auch die Schwachpunkte von Kunden durch Unternehmen bewusst ausgenutzt – zum Beispiel Unkenntnis, Bequemlichkeit, Alter, Bildungs- oder Sprachniveau. Informationsasymmetrien sind dafür ein guter Hebel. Älteren Kunden werden gerne komplexe Versicherungs- oder Bankprodukte verkauft, die sie weder verstehen noch brauchen, bei vielen medizinischen Leistungen weiß man nicht immer ganz genau, ob ein Arzt oder ein Verkäufer vor einem sitzt, und spätestens auf Seite 35 der allgemeinen Geschäftsbedingungen von Facebook, Microsoft, Allianz & Co. steigt auch der Großteil der Bildungselite unter den Konsumenten aus. Warum verfolgen zahlreiche Unternehmen eine solche Taktik der bewussten Ausnutzung und Verschleierung? McGovern und Moon bringen es in ihrem Harvard-Artikel „Companies and the Customers Who Hate Them“ auf den Punkt: „Because, unfortunately, it pays.“

Marketer – kaufmännisch-intellektuelle Leichtgewichte?

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass sich in solchen Unternehmen das Marketing als die Stimme des Kunden im Unternehmen versteht. Es scheint ja auch ohne allzu viel Marketing zu funktionieren, wenn viele Unternehmen profitabel sein können und gleichzeitig darauf verzichten, Kundennutzen, Kundenzufriedenheit und die Qualität der Kundenbeziehung zum Mittelpunkt ihrer Unternehmensstrategie zu machen. Mit der Folge, dass Unternehmen nur wenig Grund sehen, die Marketingfunktion zu einer Aufgabe auf Top-Management-Niveau zu machen, sondern das Marketing vielfach eher zu einer Unterabteilung degradieren oder es gleich outsourcen. Entsprechend stellt ein fachlicher Marketing­hintergrund auch keine zwingende Empfehlung für einen Vorstandsposten dar, sondern scheint für den Karriereaufstieg eher hinderlich zu sein, wenn man die Vorstandsetagen vieler Dax-Unternehmen oder die Geschäftsführungsebenen vieler deutscher Mittelständler näher betrachtet.

Auch die durchschnittliche Halbwertzeit von Marketingvorständen in Vorstandsgremien ist in der Regel deutlich kürzer als die ihrer Ressortkollegen. Ein Chef mit Marketinghintergrund unterliegt offenbar eher dem Generalverdacht, ein kaufmännisch-intellektuelles Leichtgewicht zu sein, und so musste sich Tina Müller, ehemalige Opel-CMO und aktuell Vorsitzende der Geschäftsführung der Parfümeriekette Douglas, unlängst in der Zeitschrift „Der Spiegel“ ernsthaft fragen lassen, ob sie denn mehr könne als „nur“ Marketing.

Es steht – so scheint es – nicht gut um das intellektuelle und konzeptionelle Erbe der Marketingpioniere Meffert, Kotler, Drucker & Co. Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit, Selbstbild und Fremdbild des Marketing-Managements klaffen in der ökonomischen Realität offenbar weit auseinander, sodass sich hier zwangsläufig die Frage aufdrängt: „Wie konnte es dazu kommen, dass das Marketing in vielen Unternehmen marginalisiert wird, und warum hat die Bedeutung des Marketings für Unternehmenswachstum und Unternehmenserfolg in der Wahrnehmung vieler Unternehmensentscheider in den letzten Jahren so abgenommen?“

Marketing sollte alle Unternehmensbereiche durchdringen

Die wesentlichen Gründe dafür sind vielfältig und sind sowohl in der Marketingwissenschaft als auch in der Unternehmenspraxis zu verorten. Ohne alle hier benennen zu können, erscheint mir doch eine Beobachtung wesentlich: Wenn CEOs beziehungsweise Geschäftsführer gerade mal drei Prozent ihrer Zeit mit ihren Kunden verbringen, wie Porter und Nohria es unlängst in ihrer Untersuchung zum Zeitmanagement von Top-Managern herausgearbeitet haben, dann wird klar, warum der Kunde und damit die Kundenorientierung nicht ganz oben auf der Prioritätenliste der meisten Unternehmensverantwortlichen steht. Haben wir da was in der Wissenschaft übersehen? Gibt es tatsächlich eine langfristige Überlebenschance für Unternehmen, die keinerlei Interesse an den Bedürfnissen, Wünschen oder der Zufriedenheit ihrer Kunden haben? Gibt es – außer in monopolistischen oder rigiden oligopolistischen Marktstrukturen – auch noch eine andere sinnvolle Form von Unternehmensführung als die einer kundenorientierten?

Solange wir in Wissenschaft und Praxis das Marketing strukturell, konzeptionell und inhaltlich von anderen Disziplinen wie Unternehmensführung, Strategie, Organisation, IT und HR künstlich trennen, müssen wir uns nicht wundern, dass die Zuständigkeit und Verantwortung für Marketing eben nicht – wie von Drucker schon im Jahre 1954 gefordert – alle Bereiche des Unternehmens durchdringt. Mit der Folge, dass Marketing immer weniger als Führungsphilosophie und Unternehmenskonzept verstanden wird, sondern als eine beliebige Funktion unter vielen.

Aber bevor jetzt Hunderte von Marketingprofessuren neu besetzt und Abertausende von Lehrbüchern neu geschrieben werden müssen – es gibt sie dennoch, die Unternehmen, die eine sehr genaue Vorstellung davon haben, welche Kundenerfahrungen und Kundenerlebnisse sie vermitteln wollen, die über ein extrem ausgeprägtes marktorientiertes Selbstverständnis verfügen und ihre Organisation als ein auf den Kunden ausgerichtetes Wertschöpfungsnetzwerk begreifen. Das sind die Unternehmen, die am Ende die überzeugendste Antwort auf die Frage aller Kundenfragen haben: „Warum sollte ich bei Ihnen kaufen?“

Dies ist ein Auszug aus dem Buch „Leadership im Marketing – Sechs strategische Leitprinzipien als Erfolgstreiber für eine führende Markt- und Wettbewerbsposition“, Springer Gabler 2021