Trends unter Beobachtung: Sagt ein Bild gar nichts mehr?

Bisher hieß es immer: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Aber Bilder fluten die Welt und inflationieren. Über den Wert und Umgang mit dem Visuellen in der Zukunft schreibt Trendbeobachter Mathias Haas.
Mathias Haas

Bilder haben Menschen immer bewegt. Entsprechend groß ist der Hunger nach Visuellem. Allerdings haben sich die Möglichkeiten, Bilder zu produzieren und zugänglich zu machen, dramatisch potenziert. Damit stellen sich zwei Fragen: Können Bilder noch die Kraft entwickeln wie bisher, und wie kann der ungezügelte Strom gebändigt werden?

1. Über wie viele Bilder reden wir eigentlich, und wo erscheinen sie überall?

Dazu gibt es einige Hochrechnungen, jedoch ändern sich die Zahlen rasant. Google Think Insights berichtete 2013 von einer Schätzung des Blogs 1000memories.com, wonach die Menschheit weltweit in 2012 allein 380 Milliarden Bilder produziert hat. Das sind rund eine Milliarde pro Tag oder 43 Millionen pro Stunde. Dies entspricht ungefähr zehn Prozent aller jemals bis dahin produzierten Bilder. Selbst wenn das eine großzügige Schätzung sein sollte – diese Zahlen sind nicht mehr fassbar. Instagrams Presseabteilung nennt für 2014 etwa 70 Millionen hochgeladene und geteilte Fotos und Videos pro Tag (also etwa 800 pro Sekunde). Bei Snapchat spricht ein Anstieg von circa 400 Millionen täglich hochgeladener Bilder in 2013 auf rund 700 Millionen in 2014 eine noch deutlichere Sprache (The Verge RealTalk – Evan Spiegel, CEO Snapchat). Interessant im Marketingkontext: Bei einer Studie über 30 000 Markenprofile auf Facebook wurde ermittelt, dass 75 Prozent aller 1,3 Millionen Posts im März 2014 Bilder waren – also knapp eine Million (Statista.com/Social Bakers).

2. Wann ist ein Bild ein Bild? Vermitteln Bilder noch authentische Events, Personen und Unternehmen?

Ein Beispiel, das unsere gelernte Denkmechanik und üblichen Kommunikationsstrategien gehörig durchrüttelt: Die Niederländerin Zilla van den Born hat als Teil ihrer Bachelorarbeit an der Kunsthochschule Utrecht „perfektes Fakebooking“ betrieben. Selbst die eigene Familie war ernsthaft der Meinung, dass sie ihren Urlaub in Thailand verbringt. Die Folge? Große Aufregung im persönlichen Umfeld und natürlich in den Medien. Heute hat die Absolventin ein eigenes Grafikdesignbüro und bietet konsequenterweise „Photo Manipulation“ an. Erst haben wir die Transparenz geliebt, die die sozialen Medien produzieren. Es kam (scheinbar) die „originäre Glaubhaftigkeit“ zurück. Gleichzeitig wurde klar, dass wir für normales Leben keine Likes und somit keine Extraportion Aufmerksamkeit bekommen. Für Menschen wie für Unternehmen ist der Druck groß, außergewöhnlich zu sein. Damit steigt auch der Anreiz, unangenehme visuelle Information in angenehme zu verwandeln.

Es wird also zur Kompetenz, authentische und gefakte Veranstaltungen, Profile und Bewegungsmuster zu erkennen oder gar zu produzieren. Laut CNN gibt es 83 Millionen gefakte Facebook-Accounts. Wie der Focus online berichtete, hatte auch schon der nordkoreanische Diktator Kim Jong Un ein unechtes Instagram-Profil: von einem Schüler aus Stuttgart.

3. Können wir noch Kontrolle über unsere Bilder im Netz erlangen? Müssen wir nicht permanent über Monitoring-Software unsere Bilder aufspüren lassen?

Ja und ja. Je nach Geschäftsmodell kann die Kontrolle einfacher werden denn je. So gibt es auf der Google-Bildersuche ein kleines Kamerasymbol, das genauso zaubern kann wie die „Reverse Image Search“ TinEye. Hier können „Bilder-URLs“ und ganze Bilder hochgeladen werden, um herauszufinden, wo die eigenen Bilder erscheinen. Das Ergebnis beschäftigt vermutlich nicht nur einen Rechtsanwalt.

Aber auch das kann man kontrollieren: Die Bank of New Zealand hat zusammen mit einem schweizerischen Softwarehersteller eine Anwendung entwickelt, die auf Basis von Mimikerkennung analysiert, was Personen über Geld und den Umgang mit selbigem denken. Das Ganze nennt sich EmotionScan und dient derzeit dazu, dem Nutzer aufzuzeigen, wie sehr sein Bauchgefühl – sichtbar gemacht durch kleinste Bewegungen der Gesichtsmuskulatur und aufgenommen durch die Webcam – seine Entscheidungen im Finanzbereich beeinflusst.

Stellen wir uns nun einmal vor, unsere Mimik würde in verschiedensten Zusammenhängen derart analysiert, dass wir davon nichts mitbekämen – während Videokonferenzen oder im Beratungsgespräch bei der Versicherung mittels Sicherheitskamera. Wie einfach wäre es, Ihnen den Bankkredit oder die Krankenversicherung zu verwehren, weil Sie „falsch“ dreinschauen und man Ihnen deswegen mangelnde Kompetenz im Umgang mit Geld oder Gesundheit unterstellt. Den neuen Job bekommen Sie nicht, weil die Analysesoftware, die Ihre Filme und Bilder im Internet beispielsweise auf Seriosität und Freundlichkeit untersucht, findet, dass diese Eigenschaften in Ihrem dort dargestellten Wesen nicht hinreichend stark vorkommen.

4. Welche Entwicklung durchlaufen Bilder – aus Sicht der Trendbeobachtung?

Die über Bilder vermittelte Welt wird zunehmen. Beispiel eins: Heute sehen die zweijährige Emma oder der neugeborene Ben den ersten Elefanten ihres Lebens in der Google-Bildersuche und danach erst im Zoo.

Beispiel zwei: In meinem Heimatort Schorndorf mit knapp 40 000 Einwohnern etwa 30 Kilometer östlich von Stuttgart war vergangenen Sommer auffällig, dass nennenswert viele (potenzielle) Besucher des jährlichen Straßenfestes vor dem Verlassen des eigenen Hauses erst einmal die Webcam auf dem Rathausdach angezapft haben – bei leerem Marktplatz blieben sie in den eigenen vier Wänden, bei vollen Getränkeständen machten sie sich auf den Weg.

5. Wie müssen Menschen in und außerhalb von Organisationen zukünftig Bilder organisieren?

Die absolute Bilderflut und vor allem die Kombinationen mit Landkarten und der zunehmenden Augmented Reality werden die neuen „Killer-Apps“. Es ist schon nennenswert, dass bei der Einbindung von Google Indoor Maps auch die Rechte an den Datenriesen übergeben werden. Bei laxer Handhabung und strategischen Fehlern von heute kann es also durchaus sein, dass der eigene Staplerfahrer – mit der neuen Datenbrille ausgestattet (beispielsweis bei DHL bereits als „Visual Reality“ im Testlauf) – im eigenen Lager von Stellenanzeigen des direkten Wettbewerbers angesprochen wird. Genau hier setzt das Start-up Roomap an. Diese „Professional Indoor Navigation“ fordert keine Abtretung und bietet vermutlich einen Baustein für die Stärke von morgen: Datenschutz ist die neue Kernkompetenz.

Oder nehmen wir EyeEm: Die kostenlose Photo-Sharing-App, bei der die User beliebige Fotos machen, sie mit diversen Filtern und de m aktuellen Standort versehen und sie dann in die beschriebenen Inszenierungsplattformen hochladen. Freund und Bekannte können – natürlich – markiert werden. Folglich brauchen wir vermutlich bald die „Meta-Bilder-Pros“. Diese neue Berufsgruppe integriert dann nicht nur „Laien-Material“ genauso in die Unternehmenskommunikation wie heute die „Bild“-Zeitung das Zufallsfoto vom „Bild“-Reporter. Damit käme dann diese visuelle Information ein stückweit zurück unter die Kontrolle desjenigen, den sie betrifft.

Diese hoch bezahlten Experten werden zur Schnittstelle zu Reputation-Managern, zu Wearable- und Augmented-Reality-Anwendungen im B2B- wie B2C-Bereich und sind gleichzeitig heute schon Bewegtbild- oder Second-Screen-Berater. Sie arbeiten weiterhin eng zusammen mit den „(Land-)Karten-Planern“ und den visuellen Interaktionsgestaltern, die den sich ständig verändernden visuellen Raum von morgen erschaffen. Neues Verhalten benötigt auch neue Entscheidungen – gerade in einem Land, das Datenschutz zum Wettbewerbsvorteil ausbaut und gleichzeitig seine digitale Phobie pflegt wie kaum ein Nachbarland. Deshalb der Appell: Nehmen Sie sich Zeit zum Denken!

Mathias Haas ist „Der Trendbeobachter“ und damit kein klassischer Zukunftsforscher. Er und sein Team machen Firmen, Verbände und öffentliche Träger zukunftsfit und nutzen dafür Infotainment und transferorientierte Beratung. Um Entscheidern in Unternehmen zu helfen, müssen Veränderungen gemanagt werden, so eine Studie des Handelsblattes. Genau deshalb wird der Redner und Berater Haas den Markt im Auge behalten.

Dieser Text ist Teil 2 der Serie „Trends unter Beobachtung“, zuerst erschienen in der Printausgabe der absatzwirtschaft 4-2015. Teil 1 mit dem Titel „Im Angesicht des Algorithmus“ lesen Sie hier.