Tourismus-Experte: Marketing und Vertrieb sind mehr denn je gefragt

Marco Gardini, Professor für Tourismus-Management an der Hochschule Kempten, ruft dazu auf, gerade im Moment der tiefsten Krise Probleme wie Overtourism und den Ausverkauf der Heimat anzugehen. Im kommenden Sommer sieht er Chancen für touristische Ziele aus der zweiten Reihe, die bisher zu Unrecht über „Undertourism“ gelitten hätten.
Die Strandkörbe auf Sylt dürften im kommenden Sommer begehrter denn je sein. (© Michael Kleinjohann / Unsplash)

Herr Gardini, wie sehen die Reisepläne des Tourismusfachmanns für den Corona-Sommer 2020 aus?

MARCO GARDINI: Wir fahren für eine Woche an die Ostsee und für eine Woche an die Nordsee. Die ursprünglich geplante Sardinien-Reise wird verschoben.

Die Frage der Urlaubsplanung wird mit jedem Tag ohne neue Schreckensnachrichten über Covid19 für Verbraucher relevanter. Dabei sind sie mit einem großen Wirrwarr konfrontiert. Was erwartet uns in der anstehenden Urlaubssaison?

Das steht und fällt mit der Entwicklung der Reisebeschränkungen innerhalb von Europa. Am 3. Juni macht Italien die Grenze auf und es wird damit gerechnet das die Reisewarnungen zumindest innerhalb von Europa ab dem 15. Juni aufgehoben werden. Entsprechend müssen wir erst einmal sehen, welche weiteren Grenzen geöffnet werden und ob die vielfach damit verbundenen Quarantäneregelungen ebenfalls aufgehoben werden. Deshalb wird erstmal viel abgewartet. Das zeigen auch die Ergebnisse unserer aktuellen Umfrage zum Reiseverhalten der Deutschen: „Schnellstmöglich wieder innerhalb Deutschlands verreisen“ – das ist das Ziel von 26 Prozent der Deutschen im Alter von 18 bis 74 Jahren. Erst einmal abwarten wollen 45 Prozent und 29 Prozent haben dieses Jahr vor, erst einmal gar nicht zu verreisen.


Zur Person: Prof. Dr. Marco A. Gardini ist stellvertretender Institutsleiter des Bayerischen Zentrum für Tourismus sowie Prodekan und Professor für Internationales Hospitality Management und Marketing an der Fakultät Tourismus-Management der Hochschule Kempten.

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Was schließen Sie aus dem Ergebnis?

Der Urlaub wird aller Wahrscheinlichkeit nach, ein anderer Urlaub werden, ein „deutscher Urlaub“. Ähnlich wie die Italiener oder die Franzosen, die am liebsten im eigenen Land verreisen, wird es in diesem Jahr vielleicht eine Saison, in der die Deutschen ausnahmsweise auch, anstatt in die Welt zu reisen, mehrheitlich ihr Heimatland bereisen.

Wie sollten sich Tourismusveranstalter im Hinblick auf nationale und internationale Regelungs-Flickenteppiche mit Ihrer Vermarktung aufstellen?

Ihnen wird viel Flexibilität abverlangt: Sie müssen sich auf verschiedene Szenarien vorbereiten, von der totalen Öffnung bis zu – schlimmstenfalls – neuerlichen Beschränkungen. Und trotzdem müssen sie kurzfristig auf den jeweiligen Wegfall von Beschränkungen reagieren und auch ihre Produkte überprüfen, ob sie unter den gegebenen Umständen überhaupt marktfähig sind.

Was kann Tourismusmarketing in der aktuellen Lage leisten?

Marketing und Vertrieb sind mehr denn je gefragt. Die gegenwärtigen Umstände machen das Produkt Reise oder Urlaub noch erklärungsbedürftiger. Veranstalter müssen ihren Kunden ganz genau erklären, was sie erwarten können und wie ihr Urlaub aussehen wird. Daneben geht es auch darum, Vertrauen und Sicherheit zu vermitteln. Das betrifft nicht nur Reiseveranstalter, sondern insbesondere auch Hotellerie, Gastronomie, Freizeiteinrichtungen, sprich die ganze touristische Infrastruktur vor Ort.

Unternehmen, die vielfach an den Rand ihrer Existenz geraten sind, sollten also eher mehr ins Marketing investieren?

Es hat sich auch in der Finanzkrise gezeigt, dass die Unternehmen, die ihre Budgets aufrechterhalten haben und weiter in Marketing und Vertrieb investiert haben, am besten aus der Krise herausgekommen sind.

Schon vor Corona vermeldetet die Tourismusbranche an Nord- und Ostsee von Jahr zu Jahr neue Besucherrekorde. Bieten sich nun auch abseits solcher Hotspots Chancen für Touristikanbieter?

Orte und Regionen, die normalerweise nicht sofort im Fokus von Touristen stehen, können natürlich von der veränderten Situation profitieren. Wenn wirklich am Ende überproportional viele Deutsche im Inland verreisen, müssen sich die Ströme letztendlich auch in die Fläche verteilen, weil das Übernachtungsangebot und damit die Buchungsmöglichkeiten in klassischen Attraktionspunkten und Destinationen begrenzt sind.

Begrenzt ist nicht nur der Platz am Strand, sondern schon lange vor der Krise war es auch das Personal. Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter zu Tausenden in die Kurzarbeit geschickt haben, könnten nun – der optimistischen Aussicht folgend – bald das Vielfache an Personal gebrauchen. Könnten Sie einen Gästeansturm überhaupt bewältigen?

Das wird eine enorme Herausforderung. Schon bislang konnte die Branche den Personalbedarf oft nur mit Arbeitskräften aus dem Ausland decken. Generell lässt sich sagen, dass die Firmen profitieren, die ihren Mitarbeiterstamm so gut es ging gehalten haben.  Aber das Thema Personal und Fachkräftemangel bleibt eine Dauerbaustelle im Tourismus- und Gastgewerbe.

Werden die Preise im Tourismus- und Gastgewerbe in Folge eines boomenden Inlandstourismus steigen?

Davon können wir ausgehen. Sowohl die Nachfragesituation, die Corona bedingte Begrenzung der Übernachtungskapazität in einigen Bundesländern als auch der erhöhte Sicherheits- und Hygieneaufwand werden sich in den Preisen niederschlagen. Aktuell verzeichnen wir in manchen Destinationen in Mecklenburg-Vorpommern oder Bayern bereits Preissteigerungen von 15 bis 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Sie selbst rufen dazu auf, sich gerade in der Krise mit Problemen wie Overtourism, Klimawandel, Flugscham und dem Ausverkauf der Heimat zu beschäftigen und über eine umfassende nachhaltige, digitale und zukunftsfähige Agenda im Tourismus zu diskutieren. Was muss sich in der Post-Corona-Zeit ändern?

Ein Wesensmerkmal des Tourismus ist, dass es so viele unterschiedliche beteiligte Akteure mit zum Teil sehr konträren Interessen gibt. Natürlich lässt sich das Bestreben zu qualitativ hochwertigerem Tourismus auch erst einmal singulär und unternehmensspezifisch vorantreiben: Ich kann beispielsweise als Hotelier in einem touristischen Hotspot durchaus nachhaltig sein und mich mit diesem Konzept von anderen vor Ort abheben. Generell braucht es aber eine breitere gesellschaftliche Basis, die auf ein gemeinsames Ziel hinwirkt. Das könnte beispielsweise in dem Bestreben liegen, zukünftig eine angemessene Balance zwischen Touristen und Einheimischen, zwischen Urlaubs- und Lebensraum, zwischen Natur und Konsum, zwischen Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit zu finden. Dafür könnte die aktuelle Krise, die uns daran erinnert, dass nicht alles selbstverständlich ist, einen verstärkenden Impuls geben.

Da sprechen Sie in der Konsequenz davon, nachhaltiges Reisen aus dem Nischenmarkt für kaufkräftige Kunden zum Mainstream-Modell zu machen.

Ich erwarte nicht, dass die Gesellschaft von jetzt auf gleich komplett umschwenkt. Aber die Zielgruppe für bewusstes und nachhaltiges Reisen wächst stetig und die zunehmende Demokratisierung der Nachhaltigkeit und die Phase des touristischen Reifekonsums ermöglichen eine qualitative Weiterentwicklung des Tourismus. Wir haben unlängst im Bayerischen Zentrum für Tourismus sieben Szenarien für den Tourismus im Jahr 2040 entwickelt. Ein positives Wunschszenario, was dort erarbeitet wurde, heißt „Neue Verträglichkeit“: Dabei werden die von mir angesprochenen Entwicklungen berücksichtigt. Der Tourismus in der Breite wäre ein anderer, mit anderem Reiseverhalten, anderer Umwelt- und Sozialverträglichkeit, aber auch mit anderen, weniger exklusiven Nachhaltigkeitspreisen als es jetzt noch der Fall ist. Hier und heute ist meines Erachtens eine gute Zeit, ein neues Bewusstsein für Preis und Leistung, für Wertschöpfung und Wertschätzung im Tourismus zu entwickeln und diese Zukunftschance sollten wir ergreifen.

Bilder von mit Kreuzfahrtriesen „zugeparkten“ Metropolen wie Venedig oder dem Touristen-Stau am Mount Everest symbolisieren auf eindringliche Art, wie weit wir es vor der Corona-Krise getrieben haben. Woraus ziehen Sie die Hoffnung, dass sich in der Post-Corona-Zeit etwas ändert?

Natürlich haben wir in den vergangenen zwei, drei Jahren viel über Overtourism geredet. Zum vollständigen Bild gehört aber auch, dass es viele touristisch attraktive Orte gibt, die im Gegensatz dazu eher an „Undertourism“ leiden. Aber klar, an den von Ihnen genannten Hotspots wurde bereits bemerkt, dass man mittel- bis langfristig die eigene touristische Substanz unterminiert und die Reiseziele in Gefahr laufen an Reiz zu verlieren. Es gibt ja bereits mancherorts Bestrebungen, Orte durch Besucherbegrenzungen oder Lenkungsmaßnahmen auf eine vernünftige Balance zu bringen, um den jeweiligen Urlaubs- und Lebensraum sowohl für Touristen als auch für Einheimische attraktiv zu halten. Ein Beispiel dafür ist Mallorca, das schon seit einigen Jahren versucht über entsprechende Regulierungen, einheimischen Wohnraum zu schützen, die Saison zu entzerren und das touristische Leistungsniveau flächendeckend anzuheben.

Sie meinen, dass die aktuellen Maßnahmen dafür als Blaupause dienen könnten?

Vorausschauende Tourismusplaner oder die Behörden an den besonders betroffenen Urlaubsorten könnten in der Tat die Gelegenheit nutzen, um über Methoden der Besucherlenkung für die Zeit nach Corona nachzudenken. „Begrenzen – Lenken – Entzerren“, lautet in den nächsten Monaten das Mantra des Tourismus in Zeiten von Corona in vielen Bundesländern und Regionen und so wird denn auch mancher lokale Tourismuspolitiker und Tourismusmanager in den Hotspots besonders darauf achten, welche Effekte sich mit entsprechenden Steuerungs- und Lenkungsmechanismen erzielen lassen.

Sie sprechen Veranstalter und die Politik an. Was ist mit den Touristen selbst, die nicht „Nein“ sagen, wenn ihnen Flüge zu Dumpingpreisen angeboten werden, was Wochenend- oder Tagestrips durch ganz Europa ermöglicht. Wieso sollten sie auch?

Das wird sich kaum ändern solange das Taxi zum Flughafen teurer ist als der Flug selbst, dafür kennen wir die menschliche Spezies doch zu gut. Wenn wir als Touristen jedoch – wie unzählige Studien es zeigen –  in nahezu allen Kundensegmenten so viel Wert darauflegen, eine intakte Natur vorzufinden, authentische Erlebnisse und lokale Erfahrungen zu machen, sollten wir dafür auch bereit sein, Preise zu zahlen, die diese Umwelt- und Sozialverträglichkeit abbilden. Wenn das gelingt, kann man auch anders über einen Zweit- oder Dritturlaub nachdenken.

(tht, Jahrgang 1980) ist seit 2019 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Davor war er zehn Jahre lang Politik- bzw. Wirtschaftsredakteur bei der Stuttgarter Zeitung. Er hat eine Leidenschaft für Krimis aller Art, vom Tatort über den True-Crime-Podcast bis zum Pokalfinale.