Steckt Twitter in einer Dauerkrise, Herr Barnett? „Ihr schreibt diese Schlagzeilen, nicht wir“

Twitter feiert seinen zehnten Geburtstag mit einer guten Nachricht: Der Zwitscher-Dienst behält sein 140-Zeichen-Limit. Im Interview erklärt Deutschland-Manager Rowan Barnett, warum das Netzwerk nicht in der Krise steckt, wie Twitter hierzulande wachsen will – und er lüftet ein lang gehütetes Geheimnis.

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Müssen wir uns Sorgen um Twitter machen?
Rowan Barnett:
Nein. Twitter war noch nie so lebhaft und dynamisch wie heute. In den vergangenen zehn Jahren hat sich Twitter zu einer global anerkannten Marke entwickelt und ist im Alltag vieler Menschen fest verankert. Wenn Menschen etwas teilen oder sehen wollen, was gerade live in der Welt passiert, gehen sie zuerst auf unsere Plattform.

Trotzdem spricht selbst die dpa von einem „Geburtstag mit Sorgenfalten“
Man muss nur mal unsere Entwicklung über die letzten 10 Jahren betrachten. Twitter entstand aus einer kleinen Idee und entwickelte sich zu einem globalen und kulturellen Phänomen, dessen Einfluss auf Millionen Menschen weltweit immer weiter zunimmt.

„Weltweit Millionen Menschen“ ist ein gutes Stichwort. Wie viele Nutzer hat Twitter denn derzeit?
320 Millionen Menschen loggen sich jeden Monat bei Twitter ein. Zählt man die Nutzer hinzu, die jeden Monat nur die Webseite besuchen, erreichen wir einen Wert von über 500 Millionen. Das ist eine unglaubliche Reichweite.

Aber warum sind dann so viele Twitterer immer irgendwie latent von Twitter enttäuscht? Oder täuscht der Eindruck?
Die latente Enttäuschung kann ich nicht nachvollziehen. Bei uns sind so viele Communitys aktiv. Vielleicht ist gerade eine Gruppe enttäuscht, das heißt aber nicht, dass die Mehrheit das Produkt nicht liebt. Auf der einen Seite gibt es die Fußball-Fans und die „Tatort“-Zuschauer, genauso wie die Web-Videostars. Gerade hier sehen wir ein starkes Wachstum in Deutschland.

Gibt es denn wirklich ein Wachstum in Deutschland?
Es gibt seit Jahren ein stetiges Wachstum. Sowohl was den Einfluss von Twitter in der Gesellschaft angeht als auch bei den Nutzerzahlen.

Jetzt müssen Sie schon etwas konkreter werden.
Tatsächlich können wir anlässlich des Jubiläums über unsere Nutzerzahlen reden. So kann ich sagen, dass wir alleine hierzulande zwölf Millionen Menschen haben, die monatlich zu Twitter kommen.

Wie viele haben davon ein eigenes Konto?
Ich glaube, viel wichtiger ist, wie man die Nutzerbasis von Twitter betrachtet. Die von uns kommunizierten zwölf Millionen verstehen sich als eine Summe aus eingeloggten und ausgeloggten Nutzern, die monatlich zu Twitter kommen. Beide Arten, Twitter zu nutzen, haben ihre Berechtigung. Es gibt diejenigen, die sich regelmäßig über Twitter informieren, und andere, die sich ins Getümmel stürzen und mit anderen diskutieren wollen. Wie viele von den Besuchern einer Nachrichtenseite in Deutschland loggen sich ein, um einen Kommentar zu schreiben, und wie viele konsumieren, ohne sich einzuloggen? Wenn Du auf einer Videoplattform bist, loggst Du dich immer ein und lädst Videos hoch? Oder schaust Du eher in ausgeloggtem Zustand? Letzeres ist sicherlich öfter der Fall. Und das ist bei Twitter genauso. Vor einigen Monaten haben wir damit begonnen, auch nicht eingeloggte Besucher zu monetarisieren, und die Ergebnisse sind sehr vielversprechend.

Trotzdem hat sich das Neukunden-Wachstum global ja abgeflacht. Wie sieht das hierzulande aus? Gibt es zwischen Flensburg und Garmisch noch ein Wachstum?
In Deutschland wachsen wir immer noch stetig. Und auch global sind wir in 2015 um neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Wir sehen noch immer ein großes Wachstumspotenzial bei den Leuten, die zu Twitter kommen, sich aber nicht einloggen. Tatsächlich ist die unglaubliche Medienpräsenz von Twitter ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite gibt sie uns eine sehr große Sichtbarkeit. Auf der anderen Seite fragen sich viele Nutzer, warum sie sich überhaupt einloggen sollen, wenn sie alles über andere Medien erfahren oder lesen können.

Wie wollen sie die Mit-Leser zu Mitgliedern machen?
In dem wir uns auf fünf Prioritäten konzentrieren:

  1. Ein klarer Fokus auf das Kernprodukt. Wie können wir alles einfacher und leichter gestalten?
  2. Live-Streaming soll aus gebaut werden.
  3. Wir wollen noch mehr kreative Meinungsführer davon überzeugen, ihren Content zu Twitter zu bringen.
  4. Eine noch sicherere Plattform zu gewährleisten
  5. Wir wollen die Zusammenarbeit mit den Entwicklern noch stärker ausbauen.

Das hört sich alles super an. Warum glauben dann alle, dass Twitter in einer gewissen Dauerkrise steckt?
Ihr schreibt diese Schlagzeilen, nicht wir. Oft ist die Innenwahrnehmung ganz anders als die Außenwahrnehmung.

Ist die Außenwahrnehmung zu stark von der Wall Street und den Blick auf den Börsenkurs getrieben?
Das könnte so sein. Wir müssen uns einfach auf das fokussieren, was Twitter ausmacht und das Produkt weiter entwickeln, dann haben wir ein riesiges Potenzial. Bei uns macht sich jedenfalls keiner Sorgen.

Ist Twitter nur für Journalisten?
Lustigerweise denken nur Journalisten so. Warum? Weil sie nur ihre eigene Filterblase kennen. Dieser Eindruck entsteht natürlich schnell, wenn mann fast ausschließlich Journalisten und Medien folgt.

Noch mal zurück zu den fünf Punkten und der künftigen Strategie. In welchen Zielgruppen will Twitter hierzulande wachsen?
Wir schauen gerade sehr interessiert auf die jungen Zielgruppen und die Web-Videostars. Dann stehen wir vor einem großen Sportjahr mit EM und Olympia. In der Vergangenheit sorgten diese Sportevents bereits für ein gutes Wachstum in Deutschland.

Kommt hier wieder so ein Fluch- und Segen-Faktor? Die Stars posten auf Twitter, die Medien binden die Tweets ein, und es gibt keinen Grund für potenzielle Neukunden, sich anzumelden?
Wir gewinnen über solche Events schon immer ganz gut neue Nutzer. Tatsächlich müssen wir aber genau an dieser Stelle einen noch besseren Job machen. So, dass die Leute, die Twitter während der EM wahrgenommen haben, spätestens wenn die Bundesliga wieder losgeht, zu uns kommen, um auch ihren Vereinen und den Spielern zu folgen.

Müsste Twitter nicht noch stärker auf kuratierte Angebote setzen und eigene Redaktionen aufbauen?
Die Medien machen da ja eigentlich schon einen guten Job. In den USA experimentieren wir mit „Moments“. Das ist aber vor allem, um neuen Nutzern zu zeigen, was Twitter ausmachen kann.

Wird „Moments“ nach Deutschland kommen?
Wir schauen gerade, was wir hierzulande machen können. Erst einmal wollen wir das Angebot aber in den USA und in England optimieren.

Verlieren Twitter und Periscope das Live-Streaming-Rennen gegen Facebook?
Nein. Wir haben Periscope vor gut einem Jahr gestartet. Und schon heute werden 40 Jahre an Video pro Tag konsumiert. Wir sind super zufrieden mit der Entwicklung.

Gibt es aktuelle Zahlen zur Periscope-Nutzung?
Erst einmal nicht. Es ist aber ja auch schon bekannt, dass die Bild bei ihren Berichten über die Paris-Attentate über 150.000 Zuschauer erreichte. Paul Ronzheimer sammelte beispielsweise schon über 2,5 Millionen Herzen und hat über 50.000 Follower.

Der US-Präsident ist bei Twitter, der Papst auch. Welche wichtige Person fehlt und ist noch nicht Teil der Twitter-Community?
Angela Merkel. Auch wenn Steffen Seibert einen großartigen Job macht.

Dieses Interview erschien zuerst auf meedia.de.