Start-up-Serie: Sachsen holt auf

Ostdeutschland hat Gründern nichts zu bieten? Irrtum. In Dresden und Leipzig werden sie hofiert. Teil vier der absatzwirtschaft-Serie über Start-up-Regionen Deutschlands.
Dresden punktet mit Elbflorenz-Flair, günstigen Mieten und erstklassiger Technologie-Forschung

Justus Nagel winkt freundlich, packt eine Flasche Club-Mate und verlässt den Glaskasten, der sein Start-up von den anderen trennt. Nagel ist der Inbegriff eines coolen Gründers im Jahr 2016: gepflegter Vollbart, Brille, schwarzes Polo-Shirt. Und dann noch die Club-Mate. Was das ist? Nagel lacht etwas verlegen. „Eistee-Brause. Die ist gerade angesagt.“

Sensape heißt das Unternehmen, das der 26-Jährige mit zwei Kollegen in Leipzig gegründet hat. Sie machen Werbeflächen mit künstlicher Intelligenz interaktiv. Zum Beispiel erkundigt sich im Supermarkt ein virtueller Kundenberater nach den Lieblingskeksen und gibt dann Tipps, wie man die zum Dessert verarbeiten kann. Die Idee geht ab wie eine Rakete. Im Jahr zwei seiner Gründung beschäftigt Sensape schon zwölf Mitarbeiter. „Wir wachsen weiter“, versichert Nagel.

Sensape gehörte zum Pionierjahrgang des Spinlab, Leipzigs Vorzeige-Akzelerator. Er sitzt im Stadtteil Plagwitz in einer ehemaligen Baumwollspinnerei, inmitten von Galerien, Ateliers, Designerwerkstätten und Goldschmieden. Schroffe Backsteinwände, graffitiverzierte Treppenhäuser, freiliegende Stahlträger: Es ist die perfekte Kulisse für das Freisetzen von Kreativität.

Gegründet wurde Spinlab 2015 von der HHL, einer privaten Business-School. Seither coachen HHL-Absolvent Eric Weber und seine Mitstreiter hier alle sechs Monate eine Kohorte handverlesener Jungunternehmen zum Erfolg. Die müssen dafür nichts zahlen, sondern kriegen sogar noch 6 000 Euro von der Stadt spendiert. Zu Spinlabs Sponsoren gehört der Porsche-Konzern, der in Leipzig den Panamera produziert. Einschlägige Start-ups lädt Joachim Lamla, kaufmännischer Geschäftsführer, schon mal zum Experimentieren in der porscheeigenen Technologiezelle ein.

Von wegen, Sachsen haben nichts zu bieten

Sage keiner, Start-ups würde in Sachsen nichts geboten. In Sachen Hightech-Infrastruktur hat der Freistaat aufgeholt. Das ist keine Selbstverständlichkeit. „Wenn ich mich vor zehn Jahren über Start-ups unterhalten wollte, musste ich nach Berlin fahren“, erinnert sich Karsten Schaal, Regionalsprecher Sachsen des Bundesverbands Deutsche Startups (BVDS) und Gründer des Onlinesupermarkts Food.de.

Heute hofieren sowohl Leipzig wie auch Dresden die jungen Unternehmen, die einmal ihre Zukunft prägen sollen. Es gibt Coworking-Spaces, Inkubatoren und Gründerpartys. Vor allem aber gibt es viel mehr Start-ups, als man denkt: Laut Startup Monitor des BVDS verteilen sich gut fünf Prozent der deutschen Gründer auf Sachsen. Das sind fast ebenso viele wie in Hessen.

Die Szene lebt, auch wenn das im Rest der Republik kaum bekannt ist, und sie entwickelt im Schatten Berlins eine beträchtliche Eigendynamik. Ein Pluspunkt sind die Wissenschaftscluster, die dort nach der Wende angesiedelt wurden. Allein Dresden beherbergt elf Fraunhofer-Institute, fünf Leibniz-Einrichtungen und drei Max-Planck-Institute. „Der Standort wird unterschätzt“, sagt Bettina Voßberg, Vorstandsvorsitzende der Dresdner Hightech Startbahn, einer privaten Initiative, die mit viel Energie die lokale Gründerszene fördert.

Business-Angels? Fehlanzeige. 40 Jahre DDR wirken nach

Was fehlt, ist Kapital. 40 Jahre DDR wirken nach. Weder in Dresden noch in Leipzig haben Konzerne ihren Hauptsitz, wie sie anderswo einen Motor für die Entwicklung einer Gründerszene spielen. Auch gewachsene Mittelstandsdynastien, die sich als Business-Angels versuchen könnten, gibt es nicht. Und die internationalen Investoren, die sich, nur eine gute Stunde entfernt, in Berlin angesiedelt haben? „Vielen ist der Weg nach Sachsen zu weit“, ist die Erfahrung von Justus Nagel.

Und so springt bislang oft – vielleicht zu oft –  die öffentliche Hand in die Bresche: Der sächsische High-Tech Gründerfonds ist mit 580 Millionen Euro der größte Seedfonds Europas. Um sich als Standort für Zukunftstechnik zu profilieren, stellte der Freistaat 200 Millionen Euro für eine Biotech-Offensive zur Verfügung; insgesamt wurden über eine halbe Milliarde Euro investiert. „Es war die Überlegung, aufzuholen“, sagt André Hofmann, Geschäftsführer der Interessenvertretungen Biosaxony und Bio-Net Leipzig. Dresden erhielt ein Bioinnovationszentrum, Leipzig die Bio City. Das ist 15 Jahre her. Die Bilanz ist gemischt.

Immerhin hat der Cluster dazu geführt, dass sich Start-ups wie Sonovum ansiedeln, ein Spezialist für die Überwachung von Gehirnfunktionen und Finalist beim Innovationspreis der Deutschen Wirtschaft. CEO Rafael Salzberger lobt die lokale Expertise: „Mittelfristig ist die Szene hier nachhaltiger als der E-Commerce in Berlin“, glaubt er. Wenn nur der Kapitalmangel nicht wäre. Auch Salzberger braucht Geld.

Ein Dienstagabend im Oktober in der gläsernen VW-Manufaktur in Dresden. Julie Meyer betritt die Bühne, Risikokapitalgeberin und Gründerin des berühmten Netzwerks First Tuesday. Sie ist der Star der Hightech Venture Days, die die knappe Ressource Geld nach Sachsen locken sollen. Seit 2013 finden die Venture Days in Dresden statt; in diesem Jahr pitchen 48 Unternehmen vor 80 Investoren. „Wenn du Geld für dein Start-up haben willst, solltest du der beste Marketer der Welt sein“, schärft Meyer den jungen Gründern ein. „Wenn es darum geht, welche Firma sich am Markt durchsetzt, ist Marketing sogar wichtiger als Technologie.“ Das gilt womöglich auch für den Standort selbst.

Leipzig und Dresden sind Rivalen. Das kann auch produktiv sein

Leipzig gilt als kreativer und lebendiger als die Landeshauptstadt, die zudem mit der Hypothek Pegida zu kämpfen hat. Im vergangenen Jahr landete „Hypezig“ bei einem Ranking des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts zur Wachstumsdynamik auf Platz drei, Dresden auf Rang zehn. Zwischen den Städten herrscht ein Wettbewerb ähnlich dem zwischen Düsseldorf und Köln. Das kann auch produktiv sein. Fakt ist: In Leipzig steigen die Zahlen der Studenten, auch derjenigen aus dem Westen – in Dresden sinken sie. Kein gutes Signal.

Obwohl die TU Dresden einen ausgezeichneten Ruf bei Ingenieur- und Naturwissenschaften hat, sind ihre Start-up-Initiativen überschaubar. „Es herrscht ein wissenschaftlicher ‚Exzellenz‘-Anspruch, der nicht primär den Gründergeist fördert“, sagt ein Insider. Der Gründergeist bleibt vorerst das Phänomen engagierter Professoren wie Gerhard Fettweis, dessen Lehrstuhl Mobile Nachrichtensysteme ein Spin-off nach dem anderen produziert. Mit seinem „5G Lab“ schlägt Fettweis zudem Brücken zwischen Jungunternehmern und Konzernen wie Vodafone.

Es gibt sie ja auch in Dresden, die Tüftler und Erfinder, die immer wieder Neues hervorbringen. Matthias Weiss zum Beispiel, ein Ingenieur, der bereits sein drittes Unternehmen gegründet hat. Commsolid heißt es und entwickelt energiesparende Kommunikations-Chips für das Internet der Dinge. 30 Mitarbeiter hat er schon, „die Technologie ist ganz neu“, und natürlich hofft Weiss, dass Commsolid eine Vorzeigefirma wird, so wie Heliatek. Dem Dresdner Hersteller organischer Fotovoltaik, 2006 gegründet, gelang im September eine Finanzierungsrunde über 80 Millionen Euro.

Für Professor Fettweis zeigt das den Weg, den die Region gehen muss, um gesunde Unternehmensstrukturen zu entwickeln – mit eigenen Firmenzentralen. Auch die Gründerszene werde erst dann richtig aufblühen, „wenn die erste Generation reich geworden ist und ihr Kapital reinvestiert“. Beides kann dauern. „Da müssen wir geduldig sein“, sagt Fettweis.

Geduld heißt nicht Abwarten, findet Ronald Scholz. Der ehemalige Vorstand der börsennotierten GK Software AG betreibt den Inkubator Sherpa Dresden und hat sich vorgenommen, das Software-Profil der Landeshauptstadt zu schärfen. 2015 hat er im Interessenverband Silicon Saxony einen Arbeitskreis Start-up ins Leben gerufen. „Der Gedanke, dass man ein Ökosystem braucht, war dort neu“, räumt er ein. Inzwischen hat der Arbeitskreis 50 Mitglieder und das große Ziel, Dresdens Gründergeschehen ein Zentrum zu geben. Etwa im „Kraftwerk Mitte“, einem stillgelegten Heizkraftwerk mit dem kreativen Charme des Industriedenkmals. „Es ist ein Ort, auf den alle warten“, sagt Scholz.

Neidisch blicken sie nach Leipzig, wo es neben dem Spinlab auch noch das Basislager gibt, einen 2015 gegründeten Coworking-Space mit 37 Start-ups und einem imposanten Eventprogramm: „Fuckup Nights“, Crowdfunding-Schulungen, „Startup Safarys“. Alle Veranstaltungen sind auf Englisch. „Leipzig braucht mehr Internationalität“, sagt Basislager-Geschäftsführer André Nikolski.

Das Besondere: Basislager sitzt im Haus der Leipziger Volkszeitung und ist selbst ein Start-up – ein Versuch des Verlags, sich neue Geschäfts- und Beteiligungsmodelle zu erschließen. Weshalb Nikolski, der das Konzept schrieb, Angestellter der Leipziger Verlags- und Druckereigesellschaft ist, hinter der wiederum die hannoversche Madsack Gruppe steht. Leipzig als Keimzelle einer Medien-Transformation? Nikolski nickt. „Das nächste Basislager wird in Kiel eröffnet.“

(mat) führte ihr erstes Interview für die absatzwirtschaft 2008 in New York. Heute lebt die freie Journalistin in Kaiserslautern. Sie hat die Kölner Journalistenschule besucht und Volkswirtschaft studiert. Mag gute Architektur und guten Wein. Denkt gern an New York zurück.