Singularität: Maschinen werden intelligenter sein als Menschen

Eine Zukunft, in der wir von Robotern versorgt werden, kostengünstig Häuser 3D drucken, mit selbstfahrenden Autos Unfälle und Staus vermeiden und durchschnittlich 120 Jahre alt werden, beschreibt einen fundamentalen Paradigmenwechsel. Stephan Balzer, Veranstalter des ersten Singularity University Summit in Deutschland, erklärt, warum es bei Singularität um mehr als Technologien geht

Von Gastautor Stephan Balzer

Im Jahr 2045 wird laut Zukunftsforscher und Erfinder Ray Kurzweil die Singularität erreicht. Es naht damit der Zeitpunkt, ab dem Maschinen erstmalig intelligenter sein werden als der Mensch – mit weitreichenden positiven Folgen. Auch andere prominente Köpfe wie der Wikileaks-Gründer Julian Assange haben die technologische Singularität als Chance der Menschheit bezeichnet, gravierende Fortschritte bei der Lösung akuter Menschheitsprobleme zu erreichen.

Weinberg-Clark-Photography

Ray Kurzweil. Copyright: Weinberg-Clark-Photography

Ray Kurzweil beschreibt die Singularität in seinem Klassiker des Transhumanismus „The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology“ aus dem Jahr 2005 als „technischen Wandel, der so schnell und allumfassend ist, dass er einen Bruch in der Struktur der Geschichte der Menschheit darstellt“. Geschehen wird dies mithilfe „exponentieller Technologien“ wie Bioinformatik, künstliche Intelligenz, Neurowissenschaften, Robotik und Nanotechnologie.

Geschwindigkeit wird unterschätzt

Was im ersten Moment wie eine ferne Zukunftsvision klingt, rückt seit einigen Jahren zunehmend in greifbare Nähe. Kurzweil verweist unter anderem auf die Technologie des 3D-Drucks oder Implantate, die es ermöglichen, durch Stimulanz gewisser Gehirnregionen taube Menschen wieder Geräusche wahrnehmen zu lassen. So hat er auch für das Jahr 2017 selbstfahrende Autos vorhergesagt. An dieser technischen Neuerung zweifelt heutzutage niemand mehr. Und auch die Jahreszahl ist durchaus realistisch.

Aber die Theorie der Singularität ist weit mehr als eine Science Fiction Spielerei. Es geht dabei nicht zuletzt um die konkret spürbare Disruption der globalen Wirtschaft im Hier und Jetzt. Die Geschwindigkeit, mit der gegenwärtig ganze Branchen von exponentieller Technologie überrollt werden, wird von einem Großteil der deutschen Wirtschaft jedoch noch immer massiv unterschätzt.

Eigene Kompetenz wird überschätzt

Eine aktuelle Studie von Crisp Research zur „Digitalen Transformation“ in Deutschland untersucht unter anderem, über welche Fähigkeiten und Einstellungen Führungskräfte verfügen müssen, um die digitalen Herausforderungen im eigenen Unternehmen erfolgreich zu bewältigen. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Der Studie zufolge verfügen aktuell nur sieben Prozent der Entscheider in Deutschland über die notwendigen Qualifikationen, um aktiv Impulse für die digitale Transformation zu geben und die dafür notwendigen Veränderungsprozesse im Unternehmen erfolgreich zu steuern. 71 Prozent sind laut der Umfrage digitale Anfänger.

Hinzu kommt eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung und den tatsächlich vorhandenen Digitalisierungs-Kompetenzen: So halten sich sechs von zehn Entscheidern für digital kompetent, das heißt, sie sehen ihre digitalen Fähigkeiten als stark oder sehr stark ausgeprägt an. Tatsächlich verfügen aber nur 26 Prozent der Befragten über diese Kompetenzen.

„Moore’s Law“ gilt für gesamte Computertechnologie

Die Relevanz von Singularität und exponentieller Technologie wird besonders deutlich in der von Intel Co-Gründer Gordon Moore 1965 aufgestellten Formel, nach der sich die Anzahl der Transistoren auf einem Chip alle zwei Jahre verdoppelt. Dieses Denkmodell ging als „Moore’s Law“ in die Geschichte der Technologie-Entwicklung ein.

Viel bedeutender als die historische Betrachtung ist, was wir aus „Moore’s Law“ für die Zukunft ableiten können. Während Moore sich lediglich auf die Betrachtung eines Chips beschränkte, lässt sich der „Verdopplungstrend“ durchaus auf die rasante Entwicklung in der gesamten Computertechnologie übertragen. Aus dieser Verdopplung können wir vor allem eine Relation zwischen Entwicklungszeitraum und verfügbarer Datenleistung bei kontinuierlich sinkenden Preisen ableiten.

Neues Verständnis für Fortschritt und Erfolg

Mit anderen Worten: Was musste ich gestern oder heute zahlen, um eine bestimmte Datenleistung abzurufen und was werde ich in der Zukunft dafür zahlen müssen? Diese Korrelation erklärt uns, warum uns bereits heute auf unserem Smartphone mehr Informationen zur Verfügung stehen als Bill Clinton während seiner gesamten Amtszeit. Gut lässt sich das auch an anderen Beispielen illustrieren: Der legendäre IBM Computer „350“ wurde 1956 vorgestellt und hatte eine Kapazität von 5 MB (!). Dafür musste man 3.200 US Dollar / Monat bezahlen; inflationsbereinigt entspräche dies heute einem Preis von 27.000 US Dollar / Monat.

So rechnet Peter Diamandis in seinem Buch „Abundance“ vor, wie Datenmenge und Leistungsfähigkeit der zehn beliebtesten, kostenlosen Apps vor 20 Jahren noch fast eine Million US-Dollar gekostet hätten. Die exponentielle Datenleistung-Preis-Zeitraum-Korrelation ist jedoch mehr als nur eine technologische Maßgabe, sie ist ein evolutorisches Denkmodell. Sie ist die Blaupause, mit der wir ein neues Verständnis für Begriffe wie Fortschritt, Erfolg und Scheitern bekommen und so die Zukunft gestalten. Exponentialität macht Technologie der breiten Gesellschaft ungeachtet der sozialen Zugehörigkeit und des finanziellen Status zugänglich und leistet damit fundamentale Demokratisierung – vom Buchdruck bis zur Industrialisierung.

Vorhersagen brauchen Gestaltungswillen

Dabei findet exponentielle technologische Entwicklung unweigerlich und zwingend statt, ob wir es wollen oder nicht. Man kann sich der Verantwortung für Technologie nicht durch Meinungslosigkeit oder gar Dämonisierung entziehen. Wir müssen bei der rapiden Entwicklung künstlicher Intelligenz auch unser ethisches und normatives Wertesystem weiterentwickeln, um mit Technologie fundamental neu gestalten zu können. Es gilt dabei der Grundsatz: Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu gestalten! Exponentielles Denken bedeutet nicht, den Menschen gegenüber der Maschine redundant zu machen, es bedeutet, ihn in seinem Selbstverständnis und Wirkungsmöglichkeiten neu zu definieren.

Unumstrittene Keimzelle und zentraler Hotspot des globalen technischen Fortschritts ist nach wie vor das Silicon Valley. Nirgendwo sonst werden die Chancen und Herausforderungen technologischer Singularität für Industrie und Umwelt sichtbarer. Dies ist der Ort, an dem die technische Zukunft geschrieben wird. Daran beteiligt ist seit 2009 die von Ray Kurzweil und Peter Diamandis gegründete Singularity University (SU), die im Silicon Valley ihren Stammsitz hat. Als Bildungsorganisation, die sich als Plattform für Innovatoren, Technologieenthusiasten und Macher versteht, entwickelt die Singularity University völlig neue Denkansätze, um die größten Probleme der Menschheit mit Hilfe neuester Technologien anzugehen.

Stephan_BalzerZum Autor: Stephan Balzer zählt zu den Pionieren der deutschen New-Media Szene und ist Geschäftsführer der Kommunikationsagentur red onion GmbH, mit der er 2009 die deutschen TEDx Konferenzen ins Leben rief. 2015 startete er eine Partnerschaft mit der in Silicon Valley ansässigen Singularity University, die von Ray Kurzweil und Peter Diamandis gegründet wurde, und ist seitdem Ambassador Germany und Head des ersten deutschen SU-Chapters in Berlin sowie Veranstalter des ersten Singularity University Summit in Deutschland am 20. und 21. April in Berlin. Führende Köpfe der US-amerikanischen High-Tech-Industrie präsentieren an diesen zwei Tagen spannende Ideen und neue Entwicklungen rund um Mobilität, künstliche Intelligenz, Robotik, Transport und Logistik.