Seid mutig und macht ’s Maul auf

Jeder kann eine Rede halten. Aber nicht jeder traut sich. Das ist schade, denn es gibt viel zu viel durchschnittliche und schlechte Reden auf der Welt. Fangen wir doch an, das zu ändern. Denn Redenhalten kann man lernen. Das Einzige, was man braucht, sind ein paar sprachlich-rhetorische Kniffe, ein bisschen Mut und das Bedürfnis, wirklich etwas zu sagen.
Streitigkeiten sind in dieser besinnlichen Jahreszeit normal

Die Ingredienzen der gelungenen Rede

Bevor es mit dem Schreiben losgeht, sollte jedem klar sein: Wer ist das Publikum? Wann und wo findet die Rede statt? Wie sieht der Rede-Ort aus? Selbst CEOs prüfen Tage vor der Hauptversammlung den Ort ihres Auftritts und proben ihren Text mit Mikrofon und Technik. Ein Gefühl der Vertrautheit mit Saal, Bühne und Pult zu entwickeln und frühzeitig mit der Umgebung eins zu werden hilft sehr, einen möglichst natürlichen und im besten Fall souveränen Eindruck beim Publikum zu hinterlassen. Ziel jeder Rede ist es grundsätzlich, verständlich im Ausdruck, kurz und durch Argumente überzeugend zu sein. Martin Luther brachte das einst in einer recht deftigen Formel auf den Punkt: „Tritt fest auf, mach ’s Maul auf, hör bald auf.“

Je länger die Rede ist, desto notwendiger ist eine sinnvolle Textstruktur mit Einleitung, Hauptteil und Schluss – ein roter Faden, der einen davon abhält, beliebig viel und lang zu schwätzen. Und der die Zuhörer daran hindert, einzuschlafen. Die Einleitung ist der Türöffner für die Rede, also die rote Möhre, nach der die Zuhörer schnappen sollen. Schon in der Antike war es populär, beim Einstieg in die Rede Wohlgefallen beim Publikum zu erzeugen (Captatio Benevolentiae), also die Zuschauer für ihre Kompetenz oder ihre gute Laune zu loben. Rockstars sind da meistens sehr offensiv und machen es kurz und knapp: „Folks, I love you all.“ Vom situationsbezogenen und persönlichen über den anekdotischen und historischen bis zum witzigen Einstieg ist alles möglich. Nur eins sollte man dringend unterlassen – nämlich einen Einstieg vor dem Einstieg: „Bevor ich zum Anfang meiner Rede komme, möchte ich gerne noch mal erklären, warum die Banane so schön krumm ist …“ Nichts ist langweiliger.

Im Hauptteil geht es darum, die Aufmerksamkeit des Publikums fest auf sich zu ziehen. Hier werden der Reihe nach die einzelnen Argumente des Redethemas und die Kernbotschaften abgehandelt. Im Prinzip läuft es so: Thesen formulieren und Beispiele finden, die belegen, dass diese Thesen richtig sind. Gerade bei langen Reden muss das Wichtigste zuerst kommen, denn die Konzentrationsfähigkeit des Publikums ist nicht unendlich und lässt oft schon nach zehn Minuten nach. Wer zehn wichtige Argumente vortragen will, sollte dringend den Text zusammenstreichen. Spätestens beim sechsten Argument hat der Zuhörer die ersten schon wieder vergessen. Es dürfen also wirklich nur relevante Thesen und Gegenthesen eine Rolle spielen.

Der Schluss der Rede sollte nie unvermittelt kommen. Er muss sich ansagen: „Bevor ich zum Schluss komme …“ oder „Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen, dass …“ Solche gesprochenen „Regieanweisungen“ sind schon deswegen gut, damit die Zuhörer, die zwischendurch abgeschaltet haben, wieder aufwachen und sich auf das Ende der Rede freuen können. Spannungsreicher ist es, am Ende einen Bogen zum Anfang der Rede zu schlagen und sich auf den Eingangswitz oder die Anfangs-Anekdote zu beziehen. Der Schluss kann auch emotional sein: Der Redner appelliert an die Zuhörer, ruft sie zum Handeln auf, lobt oder tadelt sie. Auch einen Blick in die Zukunft empfinden viele Menschen als interessant – merkwürdigerweise oft als interessanter als das Hier und Jetzt.

Ablesen ist gar nicht dumm

Wer glaubt, nur die freie Rede sei die gute Rede, irrt. Frei zu sprechen ist nur denjenigen zu raten, die es wirklich können – und ein gutes Text-Gedächtnis haben. Und selbst dann ist eine Garantie für eine gelungene Rede durchaus nicht gegeben. Philipp Rösler, einst Vizekanzler unter Merkel, war ein Meister der freien Rede – oder vielmehr der freien auswendig gelernten Rede. Zwar klang er stets recht eloquent, doch auch irgendwie steif. Seine zweifellos bemerkenswerte Gedächtnisleistung ließ kaum Raum für Spontanität. Für die Zuschauer bedeutete das ebenfalls Hochleistung – in Sachen Konzentration.

Es ist in keiner Weise peinlich oder falsch, seinen Text abzulesen. Im Gegenteil. Viele Redner halten sich sogar mit Absicht strikt an ihr Manuskript, um die Redezeit nicht zu überschreiten. Allerdings sollte man es nicht machen wie die Chefin der US-Notenbank Janet Yellen, die zwar mehr Grips hat als alle amerikanischen Präsidenten zusammen, die aber ihre Zuhörer regelmäßig durch die Monotonie ihrer streng formulierten und vorgelesenen Reden überfordert. Vorlesen muss eben geübt sein: Ein immer wieder leichtes Heben des Kopfes und der Blickkontakt zum Publikum sind schon deswegen unumgänglich, um auf mögliche Stimmungen und Zwischenrufe reagieren zu können. 

Und natürlich gibt’s dann noch den Reden-Rollator Nummer eins: Powerpoint. Vortragsguru und Apple-Gott Steve Jobs behauptete einmal: „Leute, die wissen, wovon sie reden, brauchen Powerpoint nicht.“ Er hatte natürlich recht. Allerdings: Jobs warf bei seinen zum Kult gewordenen Präsentationen ebenfalls unzählige Folien an die Wand. Und es ist auch bekannt, dass er diese Präsentationen viele Male vorher übte. Ob er insgeheim auch nicht wusste, wovon er sprach?