Morgens um sieben läuft das Radio zu seiner Höchstform auf. Bis zu 30 Prozent der Bevölkerung lassen in den Morgenstunden bis neun Uhr ihr Radiogerät laufen und sind dann hoffentlich empfänglich für Markenbotschaften der werbetreibenden Wirtschaft. Pro Tag sind es im Schnitt 58 Millionen ab zehn Jahren, die 251 Minuten, also mehr als vier Stunden Radio hören. Zu diesem Ergebnis kommt die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse in ihrer aktuellen Reichweitenuntersuchung Radio Media-Analyse (MA 2010 Radio II). Die Verweildauer steigt damit um sieben Minuten (plus 2,9 Prozent). Die Zahl der Hörer bleibt unter den Teens und Twens mit 4,3 Millionen nahezu stabil. Forscher sehen das als Indiz dafür, dass der Hörfunk und das Internet als Komplementärmedien genutzt werden. Auch die Werbekurve zeigt nach einem verhaltenen Start Anfang des Jahres wieder nach oben. Die Gattung Radio liegt im ersten Halbjahr mit 4,3 Prozent Bruttowachstum im Plus. Die Radio Marketing Services (RMS), die die nationale Werbevermarktung für 152 private Radiosender verantwortet, schloss das erste Halbjahr mit plus 1,7 Prozent ab. Auch Esther Raff, Geschäftsführerin der AS&S Radio, ist zufrieden: „Vor allem aus den Branchen Möbel/Einrichtungshäuser, dem Handel und dem Automobilmarkt kamen starke Impulse.“
Mit diesen positiven Aussichten startet die Branche in das zweite Halbjahr. Auch die neuen Angebote der Vermarkter kommen bei den Kunden gut an. Sowohl RMS als auch AS&S bieten seit Januar Crossmedia-Pakete an, die eine Aussteuerung der Werbung auf Online – und Audio-Kanälen nach spezifischen Kriterien vorsieht. So setzen zum Beispiel die Internet-Partnervermittlung „Elite Partner“ und die Geflügelmarke „Wiesenhof“ auf „Listen & Surf“ von AS&S und United Internet Media, um saisonale Angebote zu bewerben. Das Angebot „Super Kombi Digital Plus“ von RMS und der OMS Online Marketing Service“ behauptet sich ebenfalls im Markt. „Im erste Halbjahr 2010 liegen wir mit diesem Angebot im zweistelligen Plus über Vorjahr“, sagt Stefan Preussler, Verkaufsdirektor der RMS. Wie sehr die klassischen Hörfunksender im Einzelnen vom Internet profitieren, lässt sich nicht exakt feststellen. Denn ob ein Hörer ein Programm über UKW, Mittelwelle, Kabel oder Web abruft, wird im Rahmen der Media-Analyse (MA) nicht abgefragt. Das erschwert natürlich auch die Vermarktung der Webradioangebote. „Hierfür muss eine Lösung gefunden werden“, bestätigt Lutz Kuckuck, Geschäftsführer der Radiozentrale. Die Branche prüfe derzeit die nötigen strategischen Maßnahmen in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse. „Es gilt, gemeinsam mit den Werbungtreibenden akzeptierte Messstandards zu definieren, die auch Zusatz-Features der Online- und Mobilewerbung berücksichtigen“, betont Kuckuck.
Für Mediaplaner ist das Webradio interessant, weil es mobil zu empfangen ist. Dabei spielt die Bekanntheit des Senders eine entscheidende Rolle bei der Wahl. Aktuell stehen mehr als 2 700 Webradio-Angebote zur Verfügung, ermittelte die Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM-Webradio-Monitor). Das sind 700 mehr als ein Jahr zuvor. Etwa 80 Prozent sind ausschließlich im
Internet empfangbar (Internet-Only-Angebote), die anderen sind überwiegend Livestreams der UKW-Sender (Simulcast-Streams). Knapp 16 Millionen Deutsche hören Webradio, zehn Millionen Männer und 5,5 Millionen Frauen, ergab eine Umfrage des ITVerbands Bitkom.
Auch die mobile Radionutzung über Smartphones und Handys hat deutlich an Stellenwert gewonnen: Bereits 28 Prozent der 14- bis 29-Jährigen hören über ihr mobiles Telefon Radio. Zu diesen Erkenntnissen kommt die repräsentative Studie „Medien to go – was unterwegs ankommt“, die die TNS Emnid Medien- und Sozialforschung in Kooperation mit der Radiozentrale durchgeführt hat. Trotz der Medienvielfalt werde es weiterhin massenattraktive, lineare Programme geben, meint Ansgar Mayer, Leiter Crossmedia bei der Axel Springer Akademie, der eine Studie zur Audio-Nutzung durchgeführt hat. „Radio steht künftig auf zwei Standbeinen“, proklamiert Mayer. „Wir bewegen uns technisch auf ein „always on zu“. Dem Hörer sei es irgendwann egal, auf welchem technischen Weg er ein Programm empfängt oder eine Marke nutzt.“ Und noch einen Trend können die werbetreibenden Unternehmen nutzen: das „Comeback der Regionen“. Dieser vom Market Research Institute (GIM) erforschte Zukunftstrend könnte Einfluss auf die Hörfunkwerbung haben. Die Menschen sehnen sich nämlich nach Heimat, und alles, was damit verbunden ist. Dies betrifft nicht nur ältere Menschen, sondern auch Junge, die in einer immer schneller veränderten Welt einen ruhenden Pol suchen. Die Sehnsucht danach könnten werbungtreibende Unternehmen laut Experten mit regionalen Produkt- und Dienstleistungsangeboten stillen, die für Transparenz, Verlässlichkeit, Qualität und Einzigartigkeit stehen – im Gegensatz zu globalen Marken. „Werbetreibende Unternehmen aus der Region sollten daher die Stärke des Radios nutzen und Spots einsetzen, die einen unmittelbaren Kaufimpuls mit Aufforderungscharakter auslösen“, sagt Frank Luschnat, Senior Research Manager bei GIM. Dies gelingt am besten, wenn die Unternehmen den Nutzwert eines Angebots noch intensiver als bisher bewerben, um zum Hörer durchzudringen.
Aussagen über den Wert regionaler Radiokompetenz im Internet liefert die Studie „Radio Plus“. Diese führten die die Landesanstalt für Kommunikation (LFK), der Südwestrundfunk (SWR) und die privaten Radiosender Baden-Württembergs durch, um neue digitale Zusatzdienste wie Apps, also kleine Web-Services der Sender, auf ihre Benutzerfreundlichkeit hin zu analysieren. 62 Prozent der Befragten halten sie für „interessant“, fast die Hälfte erwartet allerdings, dass die Dienste kostenfrei angeboten werden. 63 Prozent der Befragten hätten nichts gegen die Nennung eines Sponsors. Besonderen Gefallen finden die Befragten an aktuellen Veranstaltungstipps aus der Region (77 Prozent). Auch im richtigen Kontext positionierte Werbung wird von den Testpersonen positiv aufgenommen. Fazit der Studie: Die neuen Zusatzdienste werden geschätzt, wenn die alten Stärken des Radios wie Empfangsqualität, Nutzerfreundlichkeit und Kernkompetenzen erhalten bleiben.
„Audio ist die mobile Killer-App schlechthin“
Das Gespräch führte Sandra Fösken.
Radio to go – was bringen die neuen mobilen Wege?“ lautet Ihr Impulsvortrag auf dem Radio Day am 7. Oktober 2010. Können Sie uns vorab schon einige Erkenntnisse mitteilen?
ANSGAR MAYER: Der Schwerpunkt meiner Forschungsarbeit fokussiert auf die Potenziale mobiler Audio-Medien, und hier kann ich in der Tat schon ein paar Keyfacts vorwegnehmen. Erstmal ganz provokant: Audio ist die mobile Killer-App schlechthin. Die Diskussion über Geschäftsmodelle der Zukunft fokussiert im Moment stark auf ‚enhanced services‘ wie Navigation und Social Networks sowie Mobile TV. Dabei wird gern übersehen: Handys sind ein erlerntes Audio-Tool. Und das Autoradio ist das bisher erfolgreichste mobile Endgerät für Medieninhalte. Wichtig ist aber aus Radio-Sicht auch: Es wäre zu kurz gedacht, Radio einfach nur eins zu eins auf Mobile übertragen zu wollen.
Hören die Verbraucher zuhause die gleichen Programme wie draußen, wenn sie Auto fahren, spazieren gehen oder in der S-Bahn sitzen?
MAYER: Da muss man genau differenzieren. Zunächst einmal: Auf dem klassischen Verbreitungsweg mobiler Audionutzung – also für das Autoradio sowie für UKW-fähige portable Geräte wie zum Beispiel Handys – trifft das zu: Erlerntes Hörverhalten wird übertragen, Markentreue bleibt bestehen. Der Hörer vertraut der Marke, den Stimmen und dem Klang. Und im Sinne eines „Mood Management“ funktioniert der Transfer in klassische mobile Nutzung seit Jahrzehnten. Wenn wir uns aber speziell auf neue mobile Empfangswege konzentrieren, zum Beispiel Radio-Nutzung über Mobile Web oder Radio-Empfang über eine iPhone-App, sieht das anders aus: Dann wird Radio aus Nutzersicht vielfach zu Audio, konkurriert mit einer Vielzahl anderer Dienste, und der Nutzer erwartet dann ein ähnlich starkes Portfolio. Im Kern geht es dabei um Grundbegriffe des mobilen Marketings: Interaktivität und Personalisierung. Radio war schon immer das persönlichste aller Medien – ob durch starke und innovative Hörerclubs oder die direkte Ansprache on air, die auch immer interaktiv angelegt war. Für die mobile Mediennutzung müssen diese Radio-Trümpfe aber jetzt neu aufgeladen werden.
Was glauben Sie? Wird es Apps nur so lange geben, bis die mobilen Browser leistungsfähiger und die Datenverbindungen schneller sind?
MAYER: Darauf legen sich im Moment viele Tech-Insider fest. In dem Experten-Panel, das ich dazu befragt habe, war die Einschätzung dagegen umstritten. Auch Skeptiker sagen, die nächsten fünf bis sieben Jahre werden Apps der Weg der Wahl sein. Und dann sollte man die Macht des Users nicht unterschätzen: Wenn sich die Mehrzahl der Web-User daran gewöhnt hat, Programme und Services via App zu nutzen, müssen mobile Browser erst einen deutlichen Mehrwert bieten, um die Bequemlichkeitsschwelle der Masse zu überwinden.
Sollten Sender in Apps investieren?
MAYER: Unbedingt. Das sind natürlich – gerade für regionale oder lokale Sender – spürbare Investments. Aber wer sich auf iPhone und Android-Handys konzentriert und zunächst einmal nur den eigenen Live-Stream mobil macht, kann sich auf vergleichsweise günstige Baukastenmodule stützen.
Und ins Webradio?
MAYER: Es ist eigentlich ganz einfach: Radio muss alle Wege gehen, die zum Hörer führen. Und wenn erst einmal „always on“ gilt, hat die Unterscheidung zwischen Radio und Webradio ohnehin keinen Sinn mehr. Ich rate jedem Sender dringend, ins Web zu investieren und über den Live-Stream hinaus weitere Services dort anzubieten.
Was ist künftig bei mobiler Audio-Werbung zu beachten?
MAYER: Die Grundzüge mobiler Werbeplanung werden künftig von einem Dreiklang bestimmt werden:
Interaktivität / Personalisierung / Emotion. Meine Forschungen haben überdies belegt, dass keine Werbeansprache so emotional ist wie Audiowerbung, weil keine Rezeption so emotional verläuft. Radio ist emotionaler und näher als jedes andere Medium. Ableitungen aus der „Mood Management Theorie“ machen außerdem deutlich, dass der Faktor der Emotionalität für Mobile Devices sogar noch stärker gilt. In der strategischen Werbeplanung wird Audio somit eine größere Rolle spielen, akustische Markenführung und Soundlogos werden an Bedeutung zulegen. Wenn man dann noch an neue interaktive Werbeformen im Zuge von Targeting und Geo-Tagging denkt – Location-based-Services (LBS), Emotion-based-Services (EBS) sowie Behavioral Marketing – bekommt man eine Ahnung, welches Potenzial da aktiviert werden kann.
Die mobile Radionutzung über Smartphones und Handys hat deutlich an Stellenwert gewonnen. Sollten die Sender für diese Nutzer spezifische Programme anbieten?
MAYER: Fest steht: Radio hat Zukunft und zwar mit zwei Standbeinen. Es wird weiterhin massenattraktive, lineare Radioprogramme geben. Und auf der anderen Seite werden via Mobile neue Kanäle und Service-Packages hinzukommen. Beachten muss man dabei: „Mobil“ wird kein so starkes Differenzierungsmerkmal mehr sein. Das bedeutet keine Abkehr vom Prinzip des Massenmediums. Aber es werden künftig stärkere interaktive Impulse und Community-Elemente integriert. Und darüber hinaus wird es möglich sein, redaktionelle Inhalte und Musik stärker zu personalisieren – und zwar automatisiert. Kein Hörer beziehungsweise Nutzer muss dafür mühsam sein Programm konfigurieren.