Realtime-Advertising: Verhandlungen zwischen Maschinen

Allmählich öffnen nun auch die großen Publisher immer mehr Werbeflächen für den Auktionsbetrieb, doch das gleicht eher einer Evolution als einer Revolution. Dabei ist ein Großteil der Hemmnisse selbst gemacht.

Von Frank Puscher

Der 2. April 2014 war ein spannender Tag für die Onlinewerbebranche. Es war der Tag des Börsengangs des Rubicon Project. Neutrale Anleger und Investoren sollten bewerten, welche Rolle künftig die Themen Realtime-Advertising (RTA) und Realtime-Bidding spielen könnten und welche Position in diesem hart umkämpften Markt das Unternehmen aus Los Angeles einnehmen sollte. Seit 2007 am Markt, bedient die Plattform sehr große Medienhäuser wie NewsCorp oder „Times“. Sie ist auf der Angebotsseite angesiedelt (Supply Side, SSP) und stellt die Plattform dar, auf der Medienhäuser und reichweitenstarke Websites ihre Werbeplätze zur Verfügung stellen. Mit 23 Millionen Dollar Umsatz im ersten Quartal 2014 gehört Rubicon Project nicht zu den ganz großen Technologieunternehmen. Interessant ist allerdings, dass die Marktforscher von Comcast vergangenen Sommer meldeten, dass die Werbereichweite von Rubicon in bestimmten Segmenten größer ist als die von Google. Doch nach einem Eintagsfliegenhoch sackte die Aktie durch und besitzt noch ziemlich genau zwei Drittel ihres Ursprungswerts. Schuld daran könnte das „Wall Street Journal“ sein, das gerade mal eine Woche vor dem Börsengang festgestellt hatte, dass automatisierte Displaywerbung eine große Betrugsmaschine ist. 36 Prozent der Aufrufe der Seiten großer Publisher kämen von Maschinen statt von Menschen. Somit würde RTB also bedeuten, dass Maschinen Anzeigen kaufen, die dann von Maschinen gesehen werden, und der Advertiser zahlt die Zeche.

Rosige Aussichten für RTA

80 Prozent aller Banner sollen bis 2024 auf vollautomatischem Weg gehandelt werden, meint die Gartner Group. Allein in den USA wächst der Markt um 17 Prozent dieses Jahr, behauptet das Interactive Advertising Buro (IAB). Rubicon selbst sagt, das via RTB gehandelte Volumen wachse um 75 Prozent jährlich.

Der kurzfristige Blick auf die Rubicon-Aktie mag polemisch sein, doch es ist erstaunlich, dass ein Branchenzweig, dem eine so rosige Zukunft vorhergesagt wird (siehe Kasten), so viele Stolpersteine zu überwinden hat. Man spürt vor allem bei den großen Advertisern, aber auch bei den Publishern mit Premiuminventar, deutliche Zurückhaltung. Von Aufbruchsstimmung ist keine Spur, eher von verhaltenem Austesten. „Eine gesunde Skepsis, diesen Prozess nun automatisiert von Softwaresystemen machen zu lassen, ist nur logisch, schließlich bedeutet dies auch eine notwendige Veränderung der Organisationen auf der Einkäuferseite“, erklärt Holger Mews, der Geschäftsführer vom Dienstleister Adform. Matthias Ehrlich, der Präsident des Bundesverbands digitale Wirtschaft, wird da schon deutlicher: „Hier gibt es noch immense Lücken auf der Angebotsseite: Bewegtbild und Branding und vor allem Mobile für Multiscreen müssen auf der Supply Side in deutlich größerem Umfang bereitgestellt werden“, sagt er im Interview mit „Internet World Business“.

Intransparenz innerhalb der Systeme

Der oben beschriebene potenzielle TKP-Betrug durch automatisch generierte Seitenaufrufe ist ein Hinderungsgrund. Intransparenz innerhalb der Systeme ein weiterer. „Wir kaufen nicht blind“, poltert Frank Sültmann. Der Hamburger verantwortet die Geschicke von Amnet. Das ist die Mediaplanungsplattform der Agenturen aus dem Aegis-Netzwerk. Er möchte furchtbar gerne wissen, ob es immer sein Erstgebot ist, das bei einer Auktion um einen Werbeplatz den Zuschlag bekommt, denn dann ist dieses Gebot offensichtlich zu hoch oder der Publisher/Vermarkter hat sich beim Grundpreis verkalkuliert. Im Grunde soll Realtime-Bidding ja genau das leisten: Transparenz schaffen. Durch ein Auktionssystem, vergleichbar dem von Google Adwords, dürfen Werbungtreibende um einen Werbeplatz konkurrieren. Um das Angebot zu bewerten, versuchen die Systeme, möglichst viele Daten über den Nutzer in Echtzeit zu aggregieren, tauschen diese mit den Systemen der Werber aus, und je nach Grad der Übereinstimmung wird ein Preis ge¬boten, der im Idealfall an die Grenzkosten heranreicht. Man bietet also auf den letzten Anzeigenkunden genau so viel, wie er dem Unternehmen bringt.

Nicht zu verwechseln ist RTB mit RTA, dem Realtime-Advertising. Auch hier wird in Echtzeit nach einer Übereinstimmung der Datenbündel von Publisher/Vermarkter und Advertiser/Agentur gesucht. Das Ergebnis kann ein Bidding sein, kann aber auch aus der Auslieferung eines personalisierten Werbemittels bestehen. RTA ist die Gattungsgruppe unter den Onlinewerbeformen. Bei vielen RTA-Kampagnen wird zwar live entschieden, ob und wenn ja, welches Werbemittel eines Werbers ausgeliefert wird, aber der TKP oder der Klickpreis stehen fest und werden nicht live verhandelt. Insofern ist es verständlich, dass die Publisher mit Premiuminventar RTA oft gut finden, RTB aber nicht. Bei RTA können sie selbst Daten zuliefern, und dies eventuell mit einem Preisaufschlag verbinden. Bei RTB hingegen droht möglicherweise ein sinkender Durchschnittspreis, und es wäre für die Verlage besonders bitter, wenn davon die großen, wichtigen Werbekunden Wind kriegen, denn deren Verhandlungsposition wäre freilich gestärkt. Die Anbieter von RTB-Software und die Agileren unter den Werbungtreibenden werden nicht müde, den Publishern zu erklären, dass das einerseits nur fair wäre und andererseits die Preise steigen könnten. Durch den Wettbewerb werde das Werbemittel ausgeliefert, das dem Werber am meisten Gewinn bringt und somit für den Nutzer wohl die höchste Relevanz haben muss. Die Klickraten, die im Bannergeschäft ohne Targeting im Promillbereich vor sich hindümpeln, könnten steigen. Hier lauert das nächste Problem. Ist die Klickrate das richtige Leistungskriterium für das Banner? Ist es der Lead, der Sale, der Customer Lifetime Value? Und wie funktionieren Branding-Kampagnen? Bringt man die überhaupt kalkulatorisch in einem RTB-Umfeld unter?

Abgeschottete Marktteilnehmer

Die Unsicherheit im Markt, die möglicherweise auch nur Ausdruck des systematischen Wandels ist, führt dazu, dass sich Marktteilnehmer voneinander abschotten und nur den Teil von Angebot und Nachfrage frei verhandeln, bei dem sie entweder sicher sind, dass das System dafür funktioniert oder den man auf anderen Wegen gar nicht mehr an den Mann bringt. Die großen Publisher oder deren Vermarkter gründen also Angebotsplattformen, kurz SSP für Supply Side Platform. Dort werden ausgewählte Teile des Angebots an ausgewählte Teile des Werbepublikums versteigert. Für die besseren Werbeplätze und die dazu passenden besseren Werbekunden gibt es Privatauktionen, übrigens eines der wichtigen Geschäftsfelder für das Rubicon Project. Frank Bachér, der deutsche Statthalter von Rubicon Project, grenzt sein Angebot wie folgt ab: „Wir haben uns klar darauf fokussiert, eine SSP zu sein und die Interessen der Publisher zu vertreten. Google zum Beispiel bietet auch eine Demand Side Platform (DSP) an. Da entstehen schon Zielkonflikte.“ Im Rahmen der Privatauktionen werden mitunter ganze Jahrespläne ausgehandelt oder Pakete geschnürt, die nicht nur online, sondern zusätzlich Radio und TV umfassen. Frank Hupke, Director Targeting bei der Agentur Resolution Media, erwartet, dass sich der automatische (programmatic) Einkauf von Werbeflächen auf diese Medien ausdehnt. Frank Bachér meint: „Im TV-Bereich reden die Publisher ständig davon, dass sie das Thema nicht interessiert, weil sie ausverkauft sind. Aber das ist doch ein Trugschluss. Gerade wenn das Angebot kleiner ist als die Nachfrage, dann würde der Auktionsmechanismus die Preise in die Höhe treiben.“

Doch auch die Werber haben ein Problem. Sie wollen vor allem, dass ihre Banner von den richtigen Menschen gesehen werden. Nischenpublikationen sind für große FMCG-Produzenten schlecht handhabbar. Das Handling ist oft teurer als das gesamte Schaltungsbudget. Das kann die Agentur ihren Kunden schlecht fakturieren, es sei denn, sie hat Messgrößen zur Hand, die den Erfolg einer Kampagne präzise belegen. Also gründen die Werber und ihre Agenturen DSPs, die die Nachfrageseite darstellen. Otto hat vor wenigen Wochen den Start seiner eigenen DSP bekannt gegeben. Laut Onlinemarketingleiterin Kerstin Pape hat man durch Tests im vergangenen Jahr eindeutig erkannt, welches Potenzial in diesem Ansatz liegt. Weil man sich aber bei der komplexen Materie nicht in Abhängigkeit von einer Agentur begeben will, nutzt Otto die Software Active Agent und baut darum ein eigenes RTA/RTB-Team auf. „Wir haben bereits im vergangenen Jahr für das Onlinemarketing bei Otto ein eigenes Attributionsmodell entwickelt und eingeführt. Das ist ein statistisches Modell basierend auf unseren eigenen Informationen rund um die Customer Journey zu Otto. Es ermöglicht uns, Budgets im Onlinemarketing effizienter auf die einzelnen Kanäle zu verteilen“, so Pape. Freilich ist ein Attributionsmodell ein veritables Betriebsgeheimnis und die Wahl einer internen Lösung somit verständlich. Spannend ist aber die Erkenntnis, die Otto, einer der wichtigsten deutschen Onlinewerber, aus der Marktentwicklung der vergangenen Jahre gewonnen hat: „Der Displaykanal hat in diesem Kontext an Bedeutung gewonnen“, sagt Kerstin Pape. Da Otto vorrangig verkaufsorientierte Werbung platziert, deutet das darauf hin, dass Suchmaschinenwerbung so weit ausgereizt ist, dass die Schaltungskosten den Mehrertrag übersteigen.

Datenschatz ragt tief ins Nutzerverhalten

Eine Sonderrolle unter den Plattformen nehmen die SSPs der Onlinegiganten Google, Amazon, Ebay und Facebook ein. Allesamt verfügen sie über einen Datenschatz, der wesentlich tiefer in das Nutzerverhalten hineinragt, als die Daten, die Medienhäuser oder große Dienstleister wie 1&1 sammeln können. Bei Amazon und Ebay sind das konkrete Kaufinteressen und historische Kaufdaten der Nutzer. „Inzwischen ist es für Ebay kein Problem mehr, wenn die eingeblendeten Anzeigen nicht zu einem Kauf auf Ebay, sondern auf einer anderen Plattform führen“, freut sich Mike Klinkhammer, der für Ebay das Vermarktungsgeschäft hierzulande leitet.

Unterdessen liegt so manchem Werbungtreibenden eine Schaltung auf den Ebay-Seiten schwer im Magen. Man würde lieber die Daten von Ebay nutzen, um damit User in anderen Umfeldern anzusprechen. Das wiederum kann sich Klinkhammer nicht vorstellen. Er hat Angst, dadurch die Hoheit über die Daten zu verlieren. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Onlinemediaagenturen RTA-Schaltungen detailliert protokollieren und somit die verwendeten Daten „mitschreiben“. Sind diese Daten stabil, müssen sie für die nächste Schaltung nicht mehr zugekauft werden.

Daten über Vorlieben und Interessen

Die Facebook-Exchange FBX besitzt andere, hochspannende Daten über die Vorlieben und Interessen der Nutzer. Es ist Branchenkonsens, dass das Targeting auf Facebook bestens funktioniert, wenn man es geschickt einsetzt. Zum Jahreswechsel ist Facebook in die Kritik geraten, willkürlich die organische Reichweite der Firmenbeiträge gedrosselt zu haben, um damit das eigene Anzeigengeschäft zu befeuern. Das weist die deutsche Facebook-Sprecherin Tina Kulow weit von sich: „Die organische Reichweite geht deshalb zurück, weil die User immer mehr Kontakte haben und dadurch mehr Postings erhalten. Je größer die Menge der Einträge auf der Timeline, umso weniger sichtbar wird der einzelne.“ Im primären Fokus aller Exchanges steht aktuell das Thema Retargeting. Google und Facebook haben Schnittstellen entwickelt, die es dem Werber erlauben, CRM-Daten zu hinterlegen und diesen Custom Audiences eigene Kampagnen auszuspielen. Google startete vor einem Jahr mit suchbasiertem Retargeting. Unternehmen können also Nutzer auf der eigenen Website mit einem Cookie markieren und spielen dann auf Google Anzeigen aus, die sowohl vom Nutzungskontext auf der Advertiserwebsite als auch vom aktuellen Suchbegriff abhängen.

Es kann wohl nicht verwundern, dass RTA nicht so schnell wächst, wie die Branche das gerne hätte. Ein enorm fragmentierter Markt macht es für Advertiser und Agenturen schwer, ihre Ressourcen so zu bündeln, dass man die geeignetsten Werbeumfelder bekommt. Gleichzeitig unterminiert der Auktionsprozess im RTB Geschäftsmodelle oder Teile davon, und die entsprechenden Stakeholder wehren sich gegen allzu schnelle Veränderungen. Der Angst der Publisher vor der Kannibalisierung der eigenen Werbeerlöse durch den programmatischen Verkauf kann nur begegnet werden, indem man einen sehr radikalen Wechselkurs einschlägt und komplett auf Programmatik setzt. Das könnte beim Publisher Effizienzvorteile generieren. Oder der Wandel vollzieht sich wie evolutionär. Stefan Krötz, Geschäftsführer von Vermarkter Ad Audience, sieht einen Silberstreif am Horizont: „Aktuell bringt der programmatische Einkauf recht gute TKP und Uplifts in allen Zielgruppensegmenten.“ Auch Frank Bachér erkennt aus den bisher laufenden US-Kampagnen Erfolgspotenzial: „Ich glaube, dass bei hochwertigen Umfeldern mit entsprechender Nachfrage hohe Preise über Programmatic Buying erzielt werden können.“

Für die Entwicklung von RTB wäre es hilfreich, wenn sowohl Agenturen als auch Publisher/Vermarkter sich noch mehr um Transparenz im Marktgeschehen bemühen würden. Schließlich geht es für die Advertiser selten darum, bestimmte Publisher auszuwählen, sondern viel mehr um Umfelder, Zielgruppen oder im theoretischen Idealfall sogar den einzelnen Nutzer, und zwar über die virtuellen Grenzen der einen SSP oder des einen Ver¬markters hinweg. Ein solcher Prozess wird an manchen Stellen schmerzhaft sein, wenn der Publisher erkennen muss, dass das eine oder andere Inventar bislang zu teuer bewertet wurde. Man sollte allerdings stets beachten, dass die kleinen und mittelgroßen Unternehmen erst in großer Zahl auf den RTB-Zug aufspringen, wenn er hinreichend einfach und transparent funktioniert. Diesen Mid- und Longtail zu ignorieren, sollten sich die Publisher genau überlegen, denn das hieße, man würde Facebook, Google, Yahoo, Amazon und Ebay dieses Feld kampflos überlassen.

Adform-Initiative

Die technischen Dienstleister im Bereich RTB leiden unter einem Henne-Ei-Problem. Wenn man nicht beweisen kann, dass hochwertige Inventare über RTB gute Preise erzielen, kann man Publisher nicht dazu bewegen, solche Inventare freizugeben. Wenn man keine Inventare zur Verfügung hat, kann man den Erfolg nicht nachweisen. Adform hat sich die Initiative Programmatic Rich Media ausgedacht, an der Advertiser sowie Publisher teilnehmen und sich gegenseitig eine Art Transparenzversprechen geben sollen. Inhalt der Initiative ist es, drei unterschiedliche Rich-Media-Formate vollautomatisch zu verkaufen und die Ergebnisse der Verkäufe sowie die Leistungswerte der Kampagnen zu diskutieren. „Wir möchten das Potenzial von Realtime-Bidding, gerade auch für kreative Branding-Kampagnen, belegen und so in eine neue Phase des RTB starten“, meint Adform-Geschäftsführer Holger Mews.