Prof. Dr. Felix Brodbeck: „Grundüberzeugungen orientieren sich an Maximierung von Eigennutz“

Zweifelhaften Beziehungen zwischen Unternehmen und Medien widmet sich die heute erschienene Ausgabe 10/2013 der absatzwirtschaft. So beleuchtet die Titelstory das mitunter unlautere Verhältnis von PR-Kommunikatoren und Journalisten sowie die nicht immer saubere Trennung von Redaktion und Anzeigenteil. Ob im Einkauf, im Vertrieb oder in der PR-Arbeit – Korruption ist ein alltägliches Phänomen. Fragen zu den Wirkhebeln unmoralischen Verhaltens stellte absatzwirtschaft-Redakteur Thorsten Garber an Prof. Dr. Felix Brodbeck vom Lehrstuhl Wirtschafts- und Organisationspsychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Herr Professor Brodbeck, welche wichtigste Antwort gibt die Psychologie derzeit auf das Phänomen der Korruption?

FELIX BRODBECK: Mag man auch noch so sehr auf kulturelle Unterschiede achten, die sich in konkreten Spielarten der Korruption zeigen, so ist jedem Menschen unmittelbar fühlbar und einsichtig, wann Vertrauen missbraucht wird, und wann nicht, was „fair play“ ist und was nicht, auch dann, wenn man selber der Übeltäter sein sollte. In der Evolutionsbiologie und der Moralpsychologie werden derzeit die neuesten Theorien über den Menschen als das „moralische Tier“ diskutiert. Generell lässt sich sagen, wo Vertrauen geschenkt werden muss und wo negative Konsequenzen von Missbrauch kaum erwartet werden – sei es aus Unwissenheit, Mangel an negativer Erfahrung, Skrupellosigkeit, Sorglosigkeit oder mangelndem Einfühlungsvermögen – findet Vertrauensmissbrauch statt. Übrigens häufiger als man denkt, im Kleinen und im Großen.

Wie haben Forscher das Verhalten in Versuchen ermittelt?

BRODBECK: Zum Beispiel zeigt sich bereits in sehr einfachen ökonomischen Spielen, wo zwei Parteien Ressourcen und Risiken wiederholt austauschen und eine Art Preisfindung betreiben, dass das Gegenüber übervorteilt wird, und zwar genau dann, wenn es der Kontext am ehesten zulässt, etwa in der letzten Begegnung einer längeren und für beide Seiten bisher profitablen Austauschbeziehung. Dort zeigt sich regelmäßig, dass der individuelle Egoismus bei einem sehr hohen Prozentsatz der Beteiligten durchschlägt, und diese ihrem jeweiligen Gegenüber nicht die implizit oder explizit vereinbarte Gegenleistung erbringen. Nun gut, so manches Mal treffen dann auch zwei Personen aufeinander, die ihr Vertrauen gegenseitig missbrauchen. Das freut dann den dritten, der sich nichts zu Schulden kommen ließ, ganz besonders. Man mag das ausgleichende Gerechtigkeit nennen, Organisation und Gesellschaften als Ganzem schadet die individuelle Tendenz Vertrauen zu missbrauchen, wenn es dem eigenen Vorteil dient und kaum wahrnehmbare Sanktionen drohen, ganz erheblich.

Welche Wirkhebel kommen bei Bestechung und Bestechlichkeit zum Einsatz?

BRODBECK: Nicht zuletzt aus der Anthropologie und der Moralpsychologie ist bekannt, dass der beobachte und gefühlte Vertrauensmissbrauch des einen, nicht notwendigerweise einer konkreten Missbrauchsabsicht und Missbrauchshandlung des anderen geschuldet ist. Das findet man zum Beispiel, wenn sich individuelle Parteien kulturübergreifend begegnen. Die „Backschisch“-Forderung des einen, die einem gesellschaftlich nicht negativ sanktionierten Gebaren entspringt, mag dem Fairness-Gefühl des anderen zuwiderlaufen, da er in seiner Kultur gelernt hat, dass dies bereits Bestechung ist. Interessant ist dabei, dass das Gefühl einem Bestechungsversuch unterworfen zu sein intensiv negativ zu Buche schlägt. Es fällt einem nicht nur auf, sondern man ist schlicht und ergreifend angewidert oder aufgebracht.

Diese Reaktion lässt darauf schließen, dass jedem das Unrecht bewusst ist.

BRODBECK: Es ist ein emotionaler Impuls, der bei der individuellen Moralentwicklung eine bedeutende Rolle spielt und durch kulturelle und historische Kontextbindungen beeinflusst wird. Mehr dazu kann man unter dem Stichwort „Habsburger Effekt“ und dem Link www.oekonomenstimme.org/artikel/2011/06/der-habsburger-effekt nachlesen. Der Impuls wird aber leider in der ökonomischen Moderne systematisch unterdrückt, ja nachgerade „weg-rationalisiert“. Das beginnt bereits in der elterlichen Erziehung, in der Schule oder unter den Gleichaltrigen in der Jugendkultur und findet einen vorläufigen Höhepunkt durchaus in der universitären Ausbildung. Eine VWL-Studentin berichtete mir vor einiger Zeit, das ihr Professor zu sagen pflegte, wenn moralische Fragen zur Debatte standen: „Montag bis Samstag lernen sie Ökonomie, die den Eigennutz maximiert. Sonntags können sie dann moralisch sein.“ Neben dem Bereich der familiären Erziehung ist der Bereich der Unterweisung in Ausbildung und beruflicher Sozialisation einer der elementarsten Faktoren der kulturell positiv beeinflussbaren individuellen Moralentwicklung. Stellhebel sind in diesen „frühen“ Bereichen sehr wirkungsvoll anzusetzen.

Stemmen sich Wirtschaftsunternehmen über Compliance-Regeln eigentlich schon ausreichend und im Vergleich zu Behörden am stärksten dagegen?

BRODBECK: Sie gehen den Schritt in die richtige Richtung. Aber solange in welchem Land auch immer derjenige als clever gilt, der geltende moralische Grundprinzipien, zum Beispiel jenes des ehrbaren Kaufmanns oder die Goldene Regel „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“, die im Übrigen eine weltweit universelle Gültigkeit beanspruchen kann, systematisch mit hochbezahltem juristischen Beistand erfolgreich unterlaufen kann, solange werden Governance-Regeln wirkungslose Sonntagsreden bleiben. Als Stichworte will ich hier nur Schlagbegriffe hinterher schicken wie Finanzkrise, Gewinne individualisieren, Verluste kollektivieren. Und das ist leider auch noch heute im Jahr 2013 nach der Dot.com- und Internet- Blase, nach der Schulden-, Finanz- und Bankenkrise der Fall.

Welche verbindlichen Maßnahmen außer Appellen sind zusätzlich sinnvoll? Und wächst die Neigung zur Vorteilsnahme?

BRODBECK: Hier ist folgende, erst kürzlich ermittelte Befundlage in der ökonomischen Psychologie womöglich von großer Bedeutung. Man nennt es „third party puischment“: Ein unbeteiligter Dritter, der einer erkennbaren Vorteilsnahme beiwohnt, etwa im oben angesprochenen ökonomischen Spiel von Ressourcen- und Risikoaustausch zum Zwecke der Preisfindung, nimmt eigene ökonomische Nachteile in Kauf, um den Vorteilsnehmer zu bestrafen. Und dies ohne erkennbaren Nutzen daraus in der Zukunft erwarten zu können. Dieses Phänomen widerspricht sämtlichen ökonomischen Theorien, die den Eigennutzt ins Zentrum stellen. Neurologische Studien haben ergeben, dass bei der Bestrafung vorteilsnehmender Personen eine Art inneres Belohnungszentrum anspricht. Man fühlt sich einfach besser, wenn man einen Vorteilsnehmer auf eigene geringe Kosten bestraft.

Auf eigene Kosten?

BRODBECK: Allerdings: Es ist genauso und vor kurzem empirisch nachgewiesen worden. Die Ökonomen können sich das auch nicht erklären. Und es ist in der Tat überraschend, dass man eigene Kosten auf sich nimmt, also Aufwand, Geld und Nervenanspannung, um den Vorteilsnehmer zu bestrafen, wenn man Gelegenheit dazu hat. Und dass, obwohl es einen nicht direkt selber betrifft. Third party punishment ist eine harte Nuss für die neo-klassische Theorie der Ökonomie.

Gibt es neben der Korruption noch andere Gebiete, in denen das menschliche Verhalten ähnliche Ausnahmezustände aufzeigt?

BRODBECK: Eine ähnliche Gefühlslage lässt sich beim Entrichten von Steuern oder beim Spenden für gemeinnützige Zwecke neurobiologisch nachzeichnen. In diesem Zusammenhang soll der Begriff des Menschen als „moralisches Tier“, darauf hindeuten, dass zwei Seelen in unserer Brust wohnen, eine egoistische auf den eigenen Vorteil gerichtete und eine solidarische auf die Befriedigung sozialer Motive gerichtete Seele. An diesen seelischen Impulsen sollten organisationale, ökonomische und gesellschaftliche Maßnahmen ansetzen. Leider ist derzeit genau das Gegenteil im Gange, die Neigung zur Vorteilsnahme mag ja nicht angewachsen sein, aber jene kulturellen Grundüberzeugungen, die diese Neigung ausgleichen helfen könnten, sind derzeit im Rückzug begriffen. Stattdessen orientieren sich die Grundüberzeugungen in allen kontemporären Kulturkreisen an westlich-kapitalistischen Modellen, die auf Maximierung von Eigennutz basieren und unsere solidarische Seele verkümmern lassen.

Mehr zum Interview mit Prof. Dr. Felix Brodbeck lesen Sie in der aktuellen absatzwirtschaft 10/2013. Hier geht es zur Einzelheftbestellung: www.absatzwirtschaft-shop.de