Objektive Hermeneutik in der qualitativen Marketingforschung

Wie eine Anzeige oder eine Marke auf den Konsumenten wirkt, ist das eine. Wie der Wirkung auf die Spur zu kommen ist, ist das andere. Abseits herkömmlicher assoziativer, projektiver und non-verbaler Verfahren bietet die objektive Hermeneutik eine Möglichkeit, komplexe Beziehungsgefüge neu zu beleuchten.

Eine ansprechende Anzeige, ein begehrtes Produkt, ein glaubwürdiger Markenauftritt – in Briefings und Meetings herrscht recht schnell Einigkeit darüber, was gelungen und treffsicher ist und was nicht. Das Überraschende dabei ist: Jeder weiß, was gemeint ist aber keiner kann erklären, warum es so ist. Fast schon instinktiv wissen wir – es ist da, etwas trifft den Punkt „ganz tief in uns drin“ und ist das Geheimnis des Erfolgs. Die andere Anzeige ist auch schön und interessant, Consumer Insight und Main Promise sind korrekt umgesetzt – aber irgend etwas fehlt.

Was genau nun dieses „irgend etwas“ ist, das die eine Anzeige hat und die andere nicht, läßt sich selbst von versierten Marketingexperten nur schwer präzisieren und in Worte fassen. Und noch viel schwerer fällt es Konsumenten, die eigenen Vorstellungen und Bauchgefühle sowohl zu fassen als auch zu verbalisieren.

Um genau dieses „irgend etwas“ zu fassen, bedarf es extensiver Verfahren der Interpretation und Rekonstruktion von Sinnstrukturen: Welche Botschaften entziffern wir? Dafür bestens geeignet ist das sinnrekonstruktive Verfahren der objektiven Hermeneutik und deren Methode der Sequenzanalyse. Es wurde in den letzten Jahrzehnten vom Frankfurter Soziologen Prof. Dr. Ulrich Oevermann entwickelt.

Lebenspraxis und Routine
Der Samstagseinkauf läßt sich nur deshalb in weniger als einer Stunde erledigen, weil wir nicht bei jedem Päckchen Quark darüber reflektieren, ob wir A oder B kaufen. Ebenso müssen wir nicht wissen, warum wir einer Anzeige mehr Aufmerksamkeit schenken als einer anderen – wir tun es einfach und sind trotzdem zufrieden. So banal sich dies anhören mag, so voraussetzungsreich ist es bei genauerer Betrachtung.

Denn diese Treffsicherheit der Lebenspraxis ist erst dadurch möglich, daß „Entscheidungskriterien“ auf den verschiedensten Ebenen vorhanden sind, die Alltagspraxis vorstrukturieren und manches nahelegen, anderes wiederum verwerfen. Mit anderen Worten: Entscheidungen sind erst auf Basis anderer Entscheidungen möglich, die zeitlich und/oder sachlich auf einer anderen Ebene angesiedelt sind.

Denkt man dieses Modell konsequent zur Ende, so entsteht ein biographisch entwickeltes System rekursiv vernetzter Entscheidungs- und Bewertungsinstanzen, die ein komplexes Orientierungsmuster ergeben, das uns vor allem eins erlaubt: Den Alltag durch bewährte Routinen zu meistern.

Diese Entscheidungs- und Bewertungsinstanzen sind mit unterschiedlicher Stabilität ausgestattet. Die tieferen Ebenen arbeiten dabei als eine Art „Absicherungssystem“, die dann einsetzen, wenn die Paradigmen auf den höheren Ebenen lebenspraktisch brüchig werden und an Gültigkeit verlieren.

  • Die oberen Ebenen – allen voran die „Meinungen“ – sind relativ einfach abfragbar. Handlungspraktisch sind sie jedoch wenig relevant: Sie sind häufig widersprüchlich und können schnell an sich ändernde Situationen angepaßt werden, ohne daß grundlegende Umorientierungen notwendig werden oder sich Bewertungen entscheidend verändern.
  • Die tieferen Ebenen sind hingegen mental kaum präsent und reflexiv nur schwer zugänglich. Insbesondere auf der Basis frühkindlicher pychosozialer Prägungen ausgebildete unbewußte Motive und Bedürfnisse als auch im sozialen Kontext der Herkunftsfamilie angeeignete habituelle Denkstile und Deutungsmuster bilden eine sehr stabile Plattform, auf der der alltägliche „modus operandi“ aufbaut.

Dilemma bei den tieferen Ebenen ist, daß sie aus der Perspektive des handelnden Subjekts zwar sinnvoll sind: Gerade dadurch, daß man sich der subtilen und komplexen eigenen Verstehensleistungen nicht zu vergewissern braucht, erhält man die Fähigkeit, im Alltag schnell und treffsicher zu entscheiden. Für den Marketingforscher besteht jedoch das Problem, daß diese tiefen Ebenen kaum abgefragt werden können. Daher bleiben gerade jene wirklich relevanten Ebenen mit ihren tief verankerten Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern marktforscherisch häufig unberücksichtigt bzw. werden unter einem Berg oberflächlicher Statements begraben.

Daß diese tieferen Ebenen dem subjektiv-reflexiven Zugang fast vollständig verschlossen sind, bedeutet nicht, daß sie starr sind. Aber solange sich Handlungs- und Orientierungsmuster bewähren, werden sie nicht hinterfragt und die tiefen Ebenen – das was die Person als individuellen Entscheider ausmacht – „schlummern“.

Wie erhält man Zugriff auf diese Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse?
Wollen Marketingforscher diese tieferen und komplexen Ebenen, die Konsumentenentscheidungen strukturieren, in einem Tiefeninterview kennenlernen und analysieren, so tauchen notwendigerweise drei zentrale Fragen auf: Zunächst einmal: Will uns der Befragte einen tiefen Einblick in seine Wünsche, Sehnsüchte, Motive gewähren? Oder werden Bekenntnisse vermieden, die z.B. als politisch unkorrekt oder als peinlich oder als zu intim empfunden werden? Letzteres dürfte häufig der Fall sein.

Die wichtigere Frage ist aber: Kann der Befragte überhaupt detailliert erzählen, warum er ein Produkt kauft oder was er an einer Marke oder an einer Anzeige „sexy“ findet? Damit stehen gleich zwei Fragen im Raum, nämlich (a) ist die eigene Motivstruktur in ihrer Komplexität überhaupt mental präsent und (b) sind die Versuche der Selbstdeutung eigener Motivstrukturen handlungsrelevant? Beides darf angezweifelt werden, weil die „Überlebensfähigkeit“ in einer komplexen und turbulenten Umwelt davon abhängt, sich auch ohne Vergewisserung der eigenen Motivstruktur entscheiden zu können. Selbstdeutungen (sprich Rationalisierungen) sind dafür bekannt, daß sie zwar plausibel sind, dabei aber die eigentlichen Motive verdecken und im Dunkeln belassen.

Die dritte Frage berührt die Fähigkeit des Interpreten, die Motive und Wahrnehmungslogik des Befragten erschließen zu können und eine zu kurz greifende oder zuschreibende Interpretation zu vermeiden. Hierfür bietet die in der objektiven Hermeneutik verwendete Methode der Sequenzanalyse einen geeigneten Weg: Die Interpretationen erfolgen nicht adhoc, sondern werden sukzessive entlang des komplett transkribierten Interviews entwickelt. Mit anderen Worten: Die an einer Textstelle entwickelte Interpretation muß sich an anderen Textstellen überprüfen lassen.

Der objektive Sinn von Sprache
Doch bleiben wir zunächst bei den ersten beiden Fragen des „Erzählen-Wollens“ und des „Erzählen-Könnens“. Wenn uns der Befragte vieles gar nicht kommunizieren will und kann, warum können wir das komplexe Gefüge der auf unterschiedlichen Ebenen wirksamen „Entscheidungskriterien“ überhaupt erschließen? Wie und wo offenbaren sich die handlungs- und entscheidungsrelevanten Routinen sowie die ihnen zu Grunde liegenden unbewußten Motive, Habitusformationen, Symboldeutungen und Lebensstile?

Die Antwort lautet: Im objektiven Sinn von Sprache und deren Verwendung. Zentraler Punkt ist nämlich, daß diese tiefliegenden Entscheidungsebenen zwar nicht mental präsent sind. Gleichwohl ist dieses „innere Regelwerk“ in der Gesamtheit aller Ebenen in sich logisch, schlüssig und sinnvoll. Und genau diese innere Logik und Schlüssigkeit wird in der Sprache mit referiert – auch wenn sie sich auf den ersten Blick verbirgt. Denn Sprache hat als allgemeines Ausdrucksmedium jenseits des intendierten Sinns immer auch einen objektiven Sinn.

Mittels einer speziellen Interviewführung wird eine Auseinandersetzung des Probanden mit einem Produkt, einer Marke, einer Anzeige ausgelöst, die von diesem weitgehendst selbst gesteuert wird. Will nun der Proband sein Handeln und seine Einstellungen begreiflich machen, seine Beweggründe und Motive erklären, so ergeben sich dafür nahezu unendlich viele Möglichkeiten von Argumentationsfiguren, inhaltlichen Verknüpfungen und gewählten Begriffen. Auf diese Weise offenbart sich der Befragte in seiner Erzählung – die seine ganz eigene ist und in diesem einzigartigen Aufbau die Binnenstruktur und Binnenlogik des Erzählers reflektiert.

In diesen Erzählungen ist also immer ein „Sinnüberschuß“ enthalten, der auf die zugrundeliegende Binnenlogik des Befragten zurückverweist, ohne daß dies bewußt kontrolliert oder vermieden werden kann. Die inhaltliche Dichte von Alltagskommunikation bringt es mit sich, daß die Bedeutung verwendeter Worte oder die Sinnhaftigkeit vorgenommener Verknüpfungen vom Erzähler selbst reflexiv nicht en detail eingeholt werden können, sondern quasi „blind“ den individuellen Orientierungsmustern und Routinen folgen. Damit wird auf der Oberfläche der Alltagskommunikation immer auch auf jene tiefliegenden Ebenen verwiesen, die unsere Binnenlogik konstituieren. Sinnüberschuß liegt also jenseits von subjektiv gemeintem Sinn und ist in jeder kommunikativen Äußerung vorhanden.

Zugriff auf den Sinnüberschuß der Sprache
Wie erhalten wir nun methodisch Zugriff auf diesen Sinnüberschuß? Im Rahmen der grundsätzlichen logischen, sprachlichen und sozialen Regeln sind per se Alternativen zu dem möglich, was der Erzähler jeweils an Worten und inhaltlichen Verknüpfungen ausgewählt hat. Deshalb wird interessant, warum nun genau jene und nicht andere Worte, Formulierungen oder Verknüpfungen gewählt wurden. Ebenso haben die in der Erzählung verwendeten Worte Bedeutungen, die unabhängig vom Erzähler existieren und die abseits der vom Erzähler intendierten Botschaft ganz neue und andere Inhalte transportieren können. Diese Eigenschaften von Sprache und Kommunikation nutzt die objektive Hermeneutik zur Erschließung der tieferen Konsumentenebenen.

Am Beginn der sequenzanalytischen angelegten Interpretation steht eine Kontrastierung der konkreten sprachlichen Äußerungen mit einem Set gedankenexperimentell entwickelter weiterer Bedeutungsgehalte und Möglichkeiten inhaltlicher Verknüpfungen. Auf dieser Basis werden Hypothesen entwickelt, die die konkrete sprachliche Äußerung des Erzählers motivieren. So entstehen auf der Basis einzelner Äußerungen erste Arbeitshypothesen, die anfänglich durchaus überzogen wirken können oder widersprüchlich sind.

Anders als bei herkömmlichen Interpretationsverfahren geht es der objektiven Hermeneutik aber nicht darum, möglichst schnell zu „der“ plausiblen Interpretation zu gelangen. Im Gegenteil: Vorschnell auf Plausibilität hin entwickelte Hypothesen erschließen die Orientierungsmuster, die Binnenlogik, die Routinen oft nur unzureichend.

Welche Hypothesen nun die richtigen sind, läßt sich an einer einzelnen Textstelle nicht entscheiden. Erst sukzessive – im Abgleich der an verschiedenen Textstellen entwickelten Hypothesen – schälen sich jene Hypothesen heraus, die den objektiven Sinn des Erzählten und die Binnenlogik des Erzählers verdeutlichen.

Fallbeispiel „Lila Kuh“
Dass manches tiefgründiger und bedeutungsvoller ist, als es zunächst den Anschein hat, vermittelt eine objektiv-hermeneutische Analyse der Lila Kuh. Dies gilt sowohl im Positiven, wenn sich feststellen läßt, daß die Lila Kuh mannigfaltig auf die Marke Milka einzahlt. Es gilt jedoch auch im negativen, wenn sich zwischen Markenführung und dem subtilen Bedeutungsgehalt des Markensymbols Inkonsistenzen bzw. sogar Spannungen ergeben. Eine objektiv-hermeneutische Analyse von zehn narrativen Tiefeninterviews, die mit Hauptverwendern der Marke Milka als auch Verwendern anderer Marken durchgeführt wurden, zeigt sowohl die positiven Seiten als auch die negativen Seiten der Kuh.

Positiv ist zunächst einmal festzustellen, daß die Kreation der Lila Kuh ein genialer Schachzug war, um die Brücke zwischen einer romantisch-natürlichen Alpenidylle und der Marke Milka zu schlagen. Von diesem Brückenschlag profitiert Milka gleich mehrfach. Die unberührte Natur der Alpen steht für saftige Weiden und rahmige Milch und unterstreicht damit die unverfälschte, hohe Qualität der Marke. Hinzu kommen romantisierende Vorstellungen von einem beschaulichen Alpenleben in einer heimatverbundenen, bodenständigen Gemeinschaft, die der Marke so wichtige Werte wie Authentizität, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit verleihen und dem Konsumenten eine attraktive Rückzugsmöglichkeit aus dem hektischen und stressigen Alltag eröffnen.

Es wäre jedoch einseitig, die lila Kuh nur als Mittler zwischen Alpenwelt und Marke zu sehen. Die Lila Kuh besitzt einen eigenen Wertekosmos, der für die Marke positiv zu Buche schlägt und gut mit den Konsumroutinen bei Schokolade harmoniert. So steht die Lila Kuh für Zufriedenheit und Gelassenheit. Ihre freundliche und ungezwungene Art strahlt eine positive Lebenseinstellung aus und macht sie außerordentlich sympathisch. Auch repräsentiert die Kuh eine träumerisch-kindliche Phantasiewelt, die einen legitimen Rückfall in die Freuden der Kindheit erlaubt und eine trostspendende kuschelige Behaglichkeit bietet, die aufkommende Alltagsfrustrationen kompensieren hilft.

Dieser Aspekt wird zusätzlich durch die Fürsorglichkeit unterstützt, die der Lila Kuh zugeschrieben wird: Als prototypisches Muttertier befriedigt sie menschliche Urbedürfnisse wie Nestwärme und Schutz. Interessant ist dabei, daß diese starke Emotionalisierung aber auch in die Gegenrichtung, nämlich vom Konsument zur Lila Kuh verläuft: Sie ist eigentlich zu lieb und sanft für diese Welt und entsprechend selbst schutzbedürftig. Auf diese Weise wird die affektive Beziehung zwischen Konsument und Milka gleich zweifach aufgebaut.

Gleichwohl ist dieser positive Wertekosmos in sich nicht unbrüchig. Was für die einen die Kuh lieb und nett macht, wirkt auf die anderen naiv und dümmlich. Und was einerseits als gelassene Selbstzufriedenheit gilt, wird andererseits auch als antriebslose Passivität verstanden. Kritisch ist aber vor allem, daß die Lila Kuh auch bieder und moralisierend einen pflichtbewußt-deutschen Arbeitsethos verkörpert. Dies widerspricht der mit Franziska von Almsick und dem Alm-Öhi („is cool man“) eingeleiteten Verjüngung der Marke und dürfte daher die junge Spaßgeneration nur in Maßen ansprechen.

Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die Lila Kuh – ein seit 30 Jahren gewohnter Anblick – letztlich doch vielschichtiger und überraschender ist, als es zunächst den Anschein hat. Die subtilen Botschaften, die von diesem Markensymbol ausgehen, konnten wie mittels der objektiven Hermeneutik genau entschlüsselt und benannt werden konnte.

Zusammenfassung
Die objektive Hermeneutik ist eines der innovativsten und tiefgründigsten Verfahren in der qualitativen Marketingforschung. Die Leistungsfähigkeit dieser Methode besteht darin, …

  • … daß auf der Basis alltagssprachlicher Erzählungen tiefsitzende Bedürfnis- und Motivstrukturen analysiert werden können, …
  • … die auf der Ebene von Lebensstilen, etablierten Routinen oder Habitusformationen angesiedelt sind …
  • … und daher dem Konsumenten selbst mental nicht präsent sind, sondern allenfalls diffuse „Bauchgefühle“ in der Auseinandersetzung mit einer Marke, einem Produkt oder einem Spot bilden.
  • Insofern geht die objektiv-hermeneutische Analyse über das hinaus, was ein Befragter von sich erzählen will oder kann …
  • … und rekonstruiert – abseits einer oberflächlichen Meinungsebene – wie ein Produkt, eine Marke, ein Spot in die Lebenswelt des Konsumenten eingebettet ist und vor diesem Hintergrund verstanden wird.
  • Die Rekonstruktion ist als „lernendes System“ angelegt, welches die Binnenlogik des Konsumenten sukzessiv entschlüsselt, ohne auf vorgefertigte Kriterien oder Prämissen zurückgreifen zu müssen.

Autor: Dipl. Soz. Dipl. Volksw. Arnd von Romatowski ist geschäftsführender Gesellschafter von mc markt-consult Institut für Strukturforschung und Marketingberatung.
E-Mail: A.v.Romatowski@markt-consult.de