Neue Geschäftsmodelle „atmen“ Daten

Als erstes Leben die Erde überzog, war unsere Atmosphäre nahezu frei von Sauerstoff. Erstes „primitives Leben“ machte Sauerstoff und änderte so die Zusammensetzung der Atmosphäre radikal. „Neues Leben“ atmet seither Sauerstoff. „Altes Leben“ atmet meist gar nichts mehr. Es ist nahezu ausnahmslos ausgestorben. Heute entsteht eine neue Atmosphäre. Sie ist vom Menschen gemacht und besteht nicht aus einem chemischen Stoff, sondern aus Daten.
Dietmar Dahmen (© Foto:Lars Salomonsen/BorderPress.dk)

Diese neue Atmosphäre nennen wir die „Cloud“. Immer mehr Devices und andere Objekte atmen Daten in die Cloud aus: Geo-locations, Zahlungsvorgänge, Likes. Und dann atmen sie andere Daten aus der Cloud ein: Abflugzeiten, Sonderangebote und Likes der Freunde zum Beispiel.

Atembare Daten versorgen neue Geschäftsmodelle mit einer nahezu grenzenlosen Energie. Neue Startups sprießen hervor, wie vor einigen Million Jahren neue Lebensformen. Die Kambrische Revolution der Geschäftsmodelle ist da. Das Ergebnis: Neue Geschäftsmodelle „atmen“ Daten. Alte Geschäftsmodelle atmen bald gar nichts mehr. Immer mehr alte Geschäfte sterben langsam aus.

Werbung stellt Informationen bereit

Warum ist das so? Der wichtigste Punkt ist die Kraft der kontextuellen Daten wie Geo-location. Ein normales Taxi kommt „im Dunkeln“. Die Anfahrt von MyTaxi oder Uber kann ich bequem am Smartphone verfolgen. Der Kontext der Anreise wird transparent.

Das Internet of Everything macht immer mehr Kontext transparent. Ich weiß (in real-time), wer wann wie viel Sport gemacht hat, und kann so „vorhersagen“, dass diese Person eher an einem Angebot für einen Sport-Drink interessiert sein wird als jemand, der gerade einen Kasten Mineralwasser gekauft hat und schon wieder im Auto sitzt.

Die Werbung muss dank kontextueller Daten weniger verführen – also dafür sorgen, dass ich etwas kaufe, was ich vielleicht gar nicht brauche – und mehr einfach nur da sein, wenn mich etwas interessiert. Werbung wandelt sich so vom rücksichtlosen Unterbrecher zum achtsamen Bereitsteller relevanter Information. Und zwar am richtigen Kanal zur richtigen Zeit für die richtige Person.

Marketing wird Kundennutzen, Werbung wird Service

Einige der neuen Services schaffen das schon jetzt perfekt. Uber ist sicher ein gutes Beispiel. Andere arbeiten daran. Manche gehen noch weiter. Wenn ich weiß, wer wann welchen Zug nimmt, kann ich die Anfahrt zum Bahnhof organisieren, einen Geo-location-basierten Weckruf anbieten und bei Wartezeiten Getränke-Coupons für das Bahnhofscafé anbieten. Alles real-time und hyperindividuell. Die ehemals „analoge“ Fahrkarte wird zum Cloud-basierten Ökosystem „Reise“ bis hin zum Angebot einer individuell erstellten Versicherung oder sogar Personen-optimierten Hotel oder Freizeitangebot am Zielort.

Werbung wird Service. Marketing wird Kundennutzen. Die alten Formen des USP – der in Wirklichkeit weniger eine Unique Selling Proposition als vielmehr eine Uniform Selling Proposition war – werden schwächer. Die neuen Form der ISP, der Individual Selling Proposition wird stärker.

Quasi jedes Geschäftsmodell ist angreifbar

Die Bereitschaft der Kunden, die neuen Services nicht nur anzunehmen, sondern sogar einzufordern, ist enorm. Die Bereitschaft gerade der etablierten Unternehmen, diese neuen Anforderungen zu erfüllen, ist erschreckend niedrig. Das macht den Angriff disruptiver Geschäftsmodelle so erfolgreich. Egal, in welchem Business Sie tätig sind, tausende von Startups schmieden Pläne gegen Sie. Sie machen die Welt der Kunden transparenter, individueller, einfacher, schneller. Ihre Kunden brauchen oft nur einen Klick und schon sind sie weg.

Klar, Datenschutz wird wichtiger, aber der einfachere, transparentere Service siegt. Auch Vertrauen wird wichtiger, aber Peers geben Vertrauen schneller als je zuvor. Und ebenfalls klar ist, dass nicht jeder sofort auf jede Innovation springt, aber bei so viel Innovationsdruck ist nahezu jedes Geschäftsmodell angreifbar.

Was bringt die Zukunft?

Die Transparenz der aktuellen Kundensituation macht die alten Formen der Unterbrecher-Werbung obsolet und bringt neue Formen der kontextrelevanten Werbung mit sich. Marken haben also eine Hürde weniger. Die Kunden finden Ihre Botschaft „an sich“ nicht uninteressant. Aber „nicht uninteressant“ ist nicht gleich spannend, sexy oder „muss ich haben“.

Marken müssen also weiterhin aktivieren. Wie können sie das? Meiner Meinung nach nur durch Emotion. Je vorhersehbarer unser Leben wird, desto rarer werden Emotionen. Und nur Emotionen führen bekanntlich zu Handlungen (ich kaufe das). Informationen führen zu Schlussfolgerungen (ich sollte das kaufen).

Die Challenge der Zukunft ist nicht die rasche Erfüllung unserer Wünsche. Das kann jeder. Das ist langweilig. Die Challenge der Zukunft ist es, jeden einzelnen Kunden persönlich im richtigen Maß zu fordern. Gute Marken verbinden, inspirieren und bereichern unser Leben. Schlecht Marken reden nur über sich und sind längst schon nicht mehr mit nur einem Bein im Grab.

Über den Autor: Dietmar Dahmen ist weltweit nachgefragter Speaker, Innovationsexperte, Inspirator und Motivator –und in Kürze live zu erleben in Hamburg (2. Juli 2015). Er begann als Strategischer Planer (Lintas) und wurde dann Creative Director (DDB-Heye), Executive Creative Director (Ogilvy) und Chief Creative Officer (BBDO). Dietmar Dahmen ist President des Board of Advisors bei Mediahead Zürich und Member of the Board of Advisors bei SummitNYC, New York. Seit 2011 hält er zusätzlich die Position des Chief Innovation Officer bei ecx.io.