Neu Ära der Multi-Channel-Strategie: Keine Entwarnung für den stationären Handel

Wenn man Experten und Studien glauben darf, lautet das Zauberwort im Handel schlechthin Multi- oder Omni-Channel. Amazon denkt hierzulande immer wieder laut über stationäre Geschäfte oder Läden nach. Damit einher geht in der Handelslandschaft die Hoffnung, dass der stationäre Handel wieder an Boden gegenüber dem Online-Handel gewinnen kann und wird. Nur bevor man hier in Euphorie ausbricht, sollte man unbedingt drei Punkte oder Faktoren berücksichtigen:
Michael Brandtner

1: Der Faktor „Kannibalisierung“

Immer mehr stationäre Handelsunternehmen und auch Handelsketten geraten durch den Online-Handel, allen voran durch Amazon unter Druck. Selbst Branchenprimus H&M ist davon betroffen und dabei umzudenken. So schrieb das Handelsblatt am 15. Dezember 2017: „Im Schlussquartal ist der Umsatz von H&M deutlich gesunken. Grund war das schwache stationäre Geschäft. Der Modelhändler kündigte deshalb an, Läden schließen zu wollen – und das Onlinegeschäft auszubauen.“

Das heißt aber auch, dass die große Gefahr besteht, dass Multi- oder Omni-Channel-Konzepte bestehende Handelsketten in eine defensive Position zwingen werden, weil man bestehende Filialen schließen muss, was wiederum zu negativer Publicity führen kann und wird und so die Markenwahrnehmung in Summe schwächt. Ganz anders sieht die Situation für Online-Händler aus. Diese besitzen hier eine sehr viel bessere Ausgangsposition. Sie können sukzessive ihre Online-Präsenz um stationäre Geschäfte ergänzen, um so den optimalen Mix zu finden. Dazu kommt: Gut inszenierte stationäre Neueröffnungen sorgen in der Regel für positive Publicity und stärken so noch einmal die Markenwahrnehmung.

Noch einmal erschwerend für stationäre Händler kommt hinzu, dass viele trotz aller Bemühungen online nicht wirklich in die Gänge kommen. Diese Erfahrung musste auch der größte Einzelhändler dieser Erde machen. Bereits im Jahr 2000 lancierte Walmart den eigenen Online-Shop Walmart.com, um Amazon und Co. auch online Paroli zu bieten. Im Jahr 2016 machte Walmart nicht einmal 3 Prozent des Gesamtumsatzes im Internet. Beate Uhse traf es kürzlich noch viel schlimmer und musste – trotz aller Online-Bemühungen – den Weg zum Konkursrichter antreten.

2: Der Faktor „Flagship-Store als Markeninstrument“

Bedenken sollte man dabei auch, dass wahrscheinlich viele Online-Händler gar keinen optimalen Mix zwischen online und offline anstreben werden, sondern im stationären Bereich entweder nur auf wenige ausgewählte Flagship-Stores setzen werden, oder stationäre Geschäfte als kreative Spielwiese für die Marke sehen und nutzen werden.

Damit kann es auch sein, dass hier gar nicht das „Geschäft“ im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern dass es vor allem um die Inszenierung der Marke geht. So unterstreicht etwa Amazon Go die Vorreiterrolle von Amazon in der Digitalisierung des Handels, egal ob es bei diesem einen Vorzeigeladen bleibt oder ob Amazon wirklich daraus ein Geschäftsmodell entwickeln will.

3: Der Faktor „Expansionsgeschwindigkeit“

Aber der wirklich entscheidende Faktor ist die mögliche Expansionsgeschwindigkeit. Dazu sollte man einen Blick in das Jahr 1994 werfen. Damals startete Jeff Bezos mit Amazon die erste Online-Buchhandlung dieser Welt. Die Einzigartigkeit in den ersten Jahren waren damals schlicht und einfach die drei Millionen Buchtitel, die man über die Website anbot. Mit dieser Auswahl konnte keine stationäre Buchhandlung mithalten. So schuf Bezos nicht nur ein komplett neues Geschäftsmodell, er veränderte auch für immer die Handelslandschaft generell.

Dabei spielten vor allem zwei Faktoren eine große Rolle, nämlich die Ortsunabhängigkeit und die Geschwindigkeit. Nur mit einer reinen Online-Strategie war und ist es möglich, innerhalb von zwei Jahrzehnten wirklich eine globale Buchhandlung aufzubauen bzw. generell ein globaler Händler zu werden. Hätte Jeff Bezos auf eine Multi- oder Omni-Channel-Strategie in der Startphase gesetzt, wäre er jetzt wahrscheinlich mit seiner Expansion irgendwo im mittleren Westen der USA. So gesehen hatte Jeff das große Glück, dass es damals noch keine Multi- oder Omni-Channel-Experten bzw. -Berater gab. Heute kann Amazon aus einer globalen Position der Stärke sehr wohl überlegen, ob man zusätzlich an ausgewählten Standorten Amazon Flagship-Stores eröffnen möchte.

Ein Blick in die Zukunft

Wenn man diese drei Faktoren im Auge hat, könnte das Konzept Multi- bzw. Omni-Channel für den klassischen stationären Handel eine noch größere Bedrohung als der reine Online-Handel darstellen, denn damit würde das zukünftige Erfolgskonzept im Handel „reine Online-Expansion mit später darauf folgender selektiver stationärer Präsenz“ lauten, wobei hier auch Amazon sehr vorsichtig sein sollte. Denn während Amazon sich immer öfter mit stationären Konzepten beschäftigt, treibt Alibaba die reine Online-Expansion global massiv voran. So gesehen könnte es auch für das Unternehmen H&M massiv Sinn machen, die Marke H&M weiterhin auf den stationären Handel zu fokussieren, um für den Online-Handel eine komplett neue Marke mit einem komplett neuen Geschäftsmodell zu schaffen.