Nahverkehrszüge unterm Kundenmikroskop

Unterschiedliche Sitze, unterschiedliche Durchsagen, unterschiedliche Ausstattung – in Zuglaboren nimmt die die DB Regio AG, die Nahverkehrstochter der Deutschen Bahn (DB), ihre Züge unter die Lupe, indem sie Kunden intensiv und systematisch über die Schulter schaut. Beim Studium bleibt es nicht – die Labore liefern sogar konkrete Produktoptimierungen. Wie die Car Clinics der Autoindustrie.

Forscher sondieren im Beobachtungsraum über mehrere Monitore das Geschehen, fünf Kilometer Kabel sammeln Gigabytes an Daten, konzentriert verfolgen Techniker ihre Versuchsreihen. Es sieht fast nach einem Universitätslabor aus, was die DB vergangenen August am Gleis 1 des Frankfurter Hauptbahnhofs eingerichtet hat. Und in der Tat wird im Zuglabor „Reiseerlebnis“ auch intensiv studiert – schaut sich die Bahn hier doch genauestens an, wie die Kunden mit dem Produkt Regionalexpress umgehen.

Dazu werden sogar absichtlich eigentlich unerwünschte Reisebegleiter wie Krümel oder leere Coladosen zwischen den Sitzen platziert. Ein Teil des Frankfurter Zuglabors beschäftigt sich nämlich damit, welche Störungen den Kunden besonders nerven. In anderen Laborthemen geht es darum, Services wie Zugdurchsagen und Fahrkartenkontrolle in verschiedenen Varianten zu testen. Dazu haben 70 Teilnehmer an drei Tagen einen fast normalen Regionalexpress am Frankfurter Hauptbahnhof durchlaufen – grüppchenweise begutachteten sie in einem dreistündigen Durchlauf die Waggons. Fast normal, weil der Zug zwar Reisesituationen simulierte, aber am Gleis stehen blieb. Fast normal, weil der Zug ein klassischer Regionalzug war, der aber mit umfangreicher Mess- und Aufnahmetechnik ausgestattet war.

Möglichst ungefilterte Rückmeldung

Die Frankfurter Versuchsanordnung war bereits die vierte ihrer Art. „In den Zuglaboren geht es uns um die möglichst ungefilterte Rückmeldung unserer Kunden zu unseren Produkten“, sagt Christine Schaper, Teamleiterin für Kundenzufriedenheit & Mobilität bei der DB Marktforschung in Frankfurt/Main. Fand der Prototyp 2010 noch im DB Museum in Nürnberg statt, sind die drei „richtigen“ Zuglabore danach immer in echten Regionalzügen am Bahnhof durchgeführt worden. Beim ersten in Nürnberg konnten Kunden auf 13 Sitzen von fünf Herstellern „probefahren“, beim zweiten in Magdeburg testeten die Fahrgäste die Ausstattung eines Doppelstockzugs, im dritten standen in Aschaffenburg zwei verschiedene einstöckige Regionalzugtypen zur Begutachtung und im vierten ging es schließlich in Frankfurt um das weiche Thema des Reiseerlebnisses im Regionalzug.

Partner der Bahn ist Ipsos, unter anderem wegen der Erfahrungen des Unternehmens mit Car Clinics für die Automobilindustrie. Wie dort komme bei den Zuglaboren ein Methodenmix zum Einsatz, erläutert Klaus Berkensträter, Associate Manager bei Ipsos UU, der Qualitativabteilung der deutschen Niederlassung des französischen Marktforschungsunternehmens. „Neben klassischen Gruppendiskussionen im Zug gibt es den Beobachtungsraum, in dem mindestens drei Forscher unabhängig voneinander die spontanen Reaktionen der Fahrgäste bewerten, die mit Kameras dorthin übertragen werden. Außerdem nutzen wir neben weiteren Befragungselementen auch Eyetracking-Sets, mit denen wir den Blickverlauf ausgewählter Probanden aufzeichnen – so sehen wir zum Beispiel, welcher Schmutz besonders ins Auge fällt.“ Ipsos stimmt die verschiedenen Ansätze systematisch aufeinander ab, um auf möglichst unterschiedlichen Wegen dem Untersuchungsgegenstand, der ungefilterten Einstellung des Kunden zum Regionalzug, näher zu kommen. Sozialwissenschaftlich handelt es sich dabei um „Triangulation“, dadurch „werden die Ergebnisse valider und facettenreicher. Die Chance, gute Ideen zur Optimierung der Züge zu erhalten, wächst“, so Dr. Hans-Jürgen Frieß, ebenfalls Associate Manager bei Ipsos UU.

Aufwändige Umbauten

Für die Labore müssen die Standard-Regionalzüge allerdings mächtig umgebaut werden. Das Ipsos-Team verlegte allein fürs Labor in Frankfurt fünf Kilometer Kabel und installierte 25 Kameras. Nicht nur die Vorbereitung der Züge macht Aufwand: Auch ein geeigneter Bahnhof, auf dem sich der organisatorische Aufwand bewältigen lässt erfordert laut Schaper einige Zeit.

Mit der intensiven Vorbereitung allein ist es nicht getan: Auch während des Zuglabors gibt es viel parallel zu tun – bis hin zur Betreuung und Bewirtung der Testfahrgäste. Da komme es auf eine gute Abstimmung an, damit die Zusammenarbeit glatt laufe, sagt Schaper, die wie auch Ipsos-Researcher Berkensträter selbst bei den Laboren dabei war.

Konkrete Produktverbesserungen

Der große Aufwand, da ist sich Schaper sicher, lohne sich aber für DB Regio auf jeden Fall: „Das fängt mit ganz konkreten Produktverbesserungen an. Ein Fahrradnutzer hat beispielsweise in Aschaffenburg moniert, dass die Stellplätze zum Festzurren auf der ungünstigeren Seite eingebaut seien, sodass man nach dem Reinrollen erst umständlich rangieren müsse – das wird entsprechend geändert.“ Natürlich sind die Reaktionen der Kunden gebündelt und priorisiert worden, sodass klar wird, was vielleicht nice to have, aber zu aufwändig zu realisieren ist und was sich mit vergleichsweise kleinem Aufwand schnell umsetzen lässt. Dazu zählen hochklappklare Armlehnen in der zweiten Klasse ebenso wie „Ohren“ an den Kopfstützen.

Quasi als Nebeneffekt haben die Labore auch Verwertbares für die Standard-Kundenforschung der DB gebracht – statt pauschal zur „Raumatmosphäre“ befragt zu werden, gibt es künftig getrennte Fragen zum Raumlicht und zum Gesamteindruck, weil das auch die Kunden getrennt sehen. Die Zuglabore sind eine ganz bewusste, qualitative Erweiterung der ohnehin schon intensiven Marktforschung der Bahn. Neben den reinen Fahrgastzählungen im umfangreichen „Reisenden-Erfassungs-System (RES)“, bei denen quantitativ reine Nutzungsdaten wie Streckenlängen und Umsteigeverhalten gemessen wird, gibt es auch eine Fülle weiterer Befragungen, insgesamt kommen über hunderttausend Interviews pro Jahr zusammen.

Marktrelevante Fahrgast-Samples

„Daher kennen wir unsere Kunden schon sehr genau“, erläutert Bahn-Marktforscherin Schaper. „Diese Kenntnisse aus den umfangreichen quantitativen Umfragen fließen natürlich in die Konzeption der Zuglabore ein – so können wir uns marktrelevante Fahrgast-Samples für die Labore zusammenstellen. Da sind dann Pendler als unsere wichtigste Zielgruppe im Nahverkehr ebenso dabei wie ihr Pendant, der Gelegenheitsfahrer. Da gibt es 1.-Klasse-Nutzer, wir achten darauf, verschieden große Teilnehmer oder unterschiedlich gebaute dabeizuhaben. Außerdem wissen wir, dass Mobilitätsthemen wie die Fahrradmitnahme immer wichtiger werden. Auch das berücksichtigen wir bei der Zusammensetzung der Samples.“ Mit diesen Vorgaben arbeitet die DB die Zuglabore gemeinsam mit Ipsos aus. Die Labore sind dabei an die Car Clinics der Autoindustrie angelehnt: Es geht darum, die ganz konkrete Interaktion der Kunden mit dem Produkt bis ins Detail – etwa den Umgang mit der Armlehne – zu untersuchen, um Optimierungspotenzial zu finden.

Wie in den Car Clinics der Autoindustrie liegt daher auch bei den Zuglaboren die Herausforderung darin, die schiere Fülle an Daten aus Befragungen, Beobachtungen und Videomitschnitten sinnvoll zu strukturieren. Schaper: „Die Ergebnisse werden modular aufbereitet, es gibt zum Beispiel Teilberichte für DB Sicherheit, für die Sitzhersteller, für die Hersteller der Züge.“ Überdies endet die enge Zusammenarbeit zwischen den Marktforschern von Ipsos und der Deutscher Bahn nicht nach den Labortagen, in einem gemeinsamen Ergebnisworkshop erarbeiten sich die Partner die Erkenntnisse.

Ausführliche Informationen

Nicht alles aber ist wie bei den Testlaboren der Autoindustrie. Weil dort der Fokus meist deutlich vor dem Verkaufsstart und manchmal noch in der Entwicklungsphase liegt, verpflichten die veranstaltenden Hersteller alle Beteiligten zu extremer Geheimhaltung. Ganz anders bei der Bahn. Da informiert nicht nur eine eigene Subwebsite ausführlich, da gibt es seit dem zweiten Zuglabor einen eigenen Pressetag. Neben Journalisten sind auch Leserreporter geladen. „Das ist sehr erfolgreich“, bilanziert Schaper die PR-Arbeit. „Speziell die Leserreporter haben fast ein Sendungsbewusstsein, sie freuen sich, mit verbessern zu können und das auch weiterzugeben.“ Kein Wunder, dass der PR-Teil beim letzten Labor noch ausgeweitet wurde. In Frankfurt/Main waren auch prominente Tester mit dabei, darunter Moderatorin Susan Atwell.

Mit den Laboren lernt die DB Regio nicht nur ihre Kunden kennen und sorgt für positive PR, sie rüstet sich damit auch für die Verhandlungen mit den Bestellern von Nahverkehrsleistungen. „Der Preis ist dabei nur ein Argument“, so Schaper. „Aber die Bestellerorganisationen legen ja auch Wert auf Qualität. Und wir können mit den Laboren zeigen, auf was die Kunden wirklich Wert legen.“

Noch ist das quasi ein Alleinstellungsmerkmal, denn die Deutsche Bahn habe damit, so Schaper, auch im internationalen Maßstab Neuland betreten. Nicht auszuschließen, dass diese Methode der DB hier Schule macht. Womöglich werden dann bald auch anderswo Marktforscher vor Beobachtungsmonitoren sitzen.