Mitmachen – wobei, wie und warum?

Eine einfache und gar nicht einmal ungenaue Definition macht das Web 2.0 zum "Mitmach-Web". Diese Entwicklung völlig zu ignorieren, können sich die wenigsten Unternehmen leisten.

Von Hartmut Giesen

Web 2.0 ist alles, bei dem der ehemals passive Internetnutzer sich an der Produktion von Inhalten beteiligt: ob er mit seinen Beiträgen Web-Seiten lediglich bereichert, wie mit Buchkritiken auf Amazon oder Kommentaren auf Blogs, ob er gemeinsam mit anderen Nutzern als Gesamtheit – als intelligenter Schwarm – die Inhalte von Websites nahezu komplett produziert, wie auf den Starseiten Wikipedia, Flickr, MySpace oder You Tube, oder ob er als Minipublizist mit einem Blog aktiv ist.

In der Regel sind die Mitmacher Privatpersonen – einerseits. Andererseits gibt es in der Wirtschaft die fieberhafte Suche nach Geschäftsmodellen, wie sich das Web 2.0 gewinnbringend nutzen lässt. Diese Jagd geht aber eigentlich nur zwei Arten von Unternehmen an: Internet-Unternehmen und Start-ups mit dem Web 2.0 als Wettbewerbsarena sowie Medienhäuser, die sich überlegen müssen, inwieweit nutzerproduzierte Inhalte eine Bedrohung oder eine Chance für die existierenden Geschäftsmodelle sind. Was bleibt, ist die Frage, welche Relevanz hat das Web 2.0 für den großen Rest der Unternehmen; den Maschinenbauer, den Software-Anbieter oder den Markenartikel-Hersteller. Keine dieser Firmen muss ihr Geschäftsmodell grundsätzlich verändern – aber zumindest die Marketingkommunikation.

Mitmachen als Pflicht
Unternehmen können sich dem Mitmach-Web auf die Dauer nicht entziehen. Sie müssen auf die eine oder andere Weise mitmachen; oder mitmachen lassen, nämlich den Kunden. Denn viele Firmen nutzen heute das Internet als Masterinstrument für die Marketingkommunikation. Und wenn sich das Web zur Version 2.0 fortentwickelt, muss die Kommunikation ihm folgen.

Der kommunikative Erfolg des Internetmarketings 1.0 lag bislang darin, dass Informationen sehr schnell und einfach mit einer theoretisch weltweiten Reichweite publiziert werden können. Das zugrunde liegende Broadcasting-Kommunikationsmodell hatte sich beim Übergang vom analogen zum digitalen Marketing jedoch nicht geändert. Wie in der reinen Print-Ära publiziert das Unternehmen Informationen, die Rezipienten konsumieren sie.

Im Web 2.0, in dem der Nutzer nicht mehr nur Informationen empfängt, sondern Inhalte auch selbst produziert, ändert sich nun der Kommunikationsprozess als Ganzes. Die Rollen von Sendern und Empfängern vermischen sich. Das Unternehmen sendet zwar immer noch. Aber der Empfänger hat die Gelegenheit, das Angekommene zu beantworten. Als Kommentar oder Produktbewertung direkt auf der Senderseite, in einem Blog oder auf einer Social-Website wie OpenBC/Xing. Diese Informationsreflektion kann im Sinne des Unternehmens positiv, aber natürlich auch negativ verstärkend wirken. Das „Märkte sind Gespräche“ des Cluetrain-Manifests wird Wirklichkeit – wie vieles, was schon zur Dotcom-Zeit versprochen worden war.

Denkt das „normale“ Unternehmen über das Web 2.0 nach, muss es genau dies abwägen: Wo nutzt es uns, wo kann es uns schaden, wenn Kunden die gleichen kommunikativen Möglichkeiten haben wie wir? Welche Chancen ergeben sich durch den kommunikativen Rück- und Verstärkerkanal, um sich vom Wettbewerb zu differenzieren? Was könnten wir davon haben, den Kunden Inhalte auf unsere Website stellen zu lassen?

Qualitäten der Marketingkommunikation 2.0
Vor jeder Antwort muss klar sein, dass diese neue „diskursive“ Qualität des Webs 2.0 einige grundsätzliche Implikationen für die Qualität der Marketingkommunikation mit sich bringt. So sollte Marketingkommunikation 2.0 sein:

  • Glaubwürdig: Qualitäten, Eigenschaften und Kompetenzen von Produkten, Dienstleistungen oder ganzen Unternehmen werden nicht behauptet, sondern demonstriert und gezeigt – durch den Webauftritt, durch den präsentierten Content, durch Diskussionsbeiträge. Unglaubwürdige Kommunikation kann dazu führen, dass Unternehmen in die Kritik geraten und durch die Verstärkerfunktionen des Webs 2.0 Imageschäden und Umsatzeinbußen erleiden.
  • Nützlich: Schon die Informationen des Unternehmens helfen dem Kunden, seine Bedürfnisse zu befriedigen oder eine Lösung für sein Problem zu finden. Nutzbringende Informationen in Form von Fachartikeln, Tipps oder Hintergrundwissen empfehlen Unternehmen als kompetente Unterstützung, die Aufmerksamkeit und Links auf die eigenen Seiten zieht und das Image verbessert.
  • Zweiseitig: Die Marketingkommunikation 2.0 steigt in Diskussionen mit den Kunden ein, statt lediglich Statements über Produktqualitäten abzugeben. Dies beginnt mit Funktionen zur Bewertung und Kommentierung von Produkten, wie sie von Amazon, iTunes oder auch dem Outdoor-Versender Globetrotter.de angeboten werden, und reicht bis zu informativen Blogs über Produkte, Dienstleistungen oder Unternehmen mit ihren Feedback-Funktionen. Das Web 2.0 diskutiert ohnehin. Deshalb sollten es Unternehmen auch gleich auf ihren Seiten zulassen und sich daran beteiligen – mit den dazugehörigen Risiken –, um zu lernen und um lesenden und kommentierenden Kunden einen Mehrwert zu bieten.

Glaubwürdigkeit, Nützlichkeit und Zweiseitigkeit waren auch bisher erstrebenswerte Kommunikationsqualitäten im Marketing. Aber im Web 2.0 wiegt ihr Fehlen schwerer. Denn das Diskussions- fordert sie mehr als das Broadcasting-Modell und sie lassen sich mit den neuen Techniken im großen Maßstab sehr viel leichter realisieren.

Strategische Web-2.0-Optionen
Welche Aktivitäten sind im Web 2.0 für welches Unternehmen nun sinnvoll? Grundsätzlich gibt es fünf Optionen: Gar nichts tun; das Web 2.0 beobachten; Kunden bzw. Website-Nutzern erlauben, Inhalte auf der Unternehmenswebsite zu platzieren; als Unternehmen Plattformen des Webs 2.0 aktiv nutzen; seinen Kunden eigene Web-2.0-Möglichkeiten anbieten.

Gar nichts tun
Die Entwicklung des Webs 2.0 völlig zu ignorieren, können sich die wenigsten Unternehmen leisten. Noch nicht dringlich sind diese Angelegenheiten für Firmen, die in sehr übersichtlichen Nischen agieren und quasi jeden ihrer Kunden persönlich kennen. Aber selbst sie könnten überprüfen, ob sich durch Kommentarfunktionen auf der Website oder einen Blog mehr und besseres Kundenfeedback einholen lässt oder Kommunikationsprozesse optimierbar sind.

Web 2.0 beobachten
Eigentlich die Mindestpflicht für jeden Marketingverantwortlichen und dies in mehrfacher Hinsicht. Zu beobachten sind folgende Punkte:

  • Welche Diskussionen gibt es über das Unternehmen, seine Produkte und seine Dienstleistungen? Dafür gibt es inzwischen spezialisierte Dienstleister. Aber oft reicht auch erst einmal die Einrichtung eines Google-Alerts mit einem passenden Suchwort und der Besuch einschlägiger Network-Plattformen wie OpenBC/Xing und spezialisierter Blog-Suchmaschinen wie Technorati.
  • Was macht die Konkurrenz im Web 2.0? Vielleicht ist der Wettbewerber kreativer, was das Nutzen von Web-2.0-Methoden oder -Techniken angeht und verschafft sich damit Wettbewerbsvorteile. Dies sollte genau beobachtet werden, um rechzeitig reagieren zu können.
  • Welche neuen Entwicklungen gibt es, die relevant werden könnten? Das Web 2.0 entwickelt sich stetig weiter. Auch wenn Unternehmen heute noch nicht die Notwendigkeit sehen, aktiv zu werden, können neue Technologien oder Konzepte dies sehr schnell ändern.

Angebot von Web-2.0-Funktionen auf der eigenen Website
Die Einrichten von Web-2.0-Funktionen – Kommentar- und Bewertungsfunktionen oder Foren – auf der eigenen Website bietet viele Chancen, birgt aber auch Risiken:

  • Kommentare und Bewertungen erhöhen den Wert des Informationsangebots einer Website. Der Erfolg von Amazon wird zum Teil auch darauf zurückgeführt, dass Bücher von den Besuchern besprochen werden und damit Käufern eine Orientierung beim Kauf geben – der Einfluss der Leser-Literaturkritik ist heute in der Massenwirkung wichtiger als die professionelle Literaturkritik.
  • Kommentare, Bewertungen und Foren auf den Seiten von Herstellern und Anbietern sind Marktforschung frei Haus. Sie kommunizieren unmissverständlich, was Kunden wollen und was nicht.
  • Kommentieren und Bewerten erhöht das Engagement des Kunden und bindet ihn langfristiger und enger an das Unternehmen.
  • Das Risiko besteht darin, dass auch kritische Kommentare und Bewertungen für andere Kunden sichtbar werden – und Unternehmen sollten der Versuchung widerstehen, sie zu beseitigen. Dies erhöht einerseits die Glaubwürdigkeit und wirkt souverän, andererseits stellen sich nur durch negative Kritiken auch Lerneffekte ein. Abgesehen davon: Wenn die Produkte eines Unternehmens genügend relevant sind, findet die negative Diskussion halt woanders statt.

Web-2.0-Plattformen nutzen
Selbst im Web 2.0 aktiv zu werden, heißt, dass das Unternehmen und Mitarbeiter sich an Diskussionen auf Networking-Plattformen oder Seiten mit nutzergenerierten Inhalten beteiligen.

Business-Plattformen wie OpenBC/Xing sind dazu konzipiert, um dort auch Marketing zu betreiben. Allerdings steht im Vordergrund der Wissensaustausch, der auch Marketingeffekte haben darf – durch Darstellung der eigenen Kompetenzen und geschicktes Verlinken mit der eigenen Website. Andere Business-Seiten mit nutzergenerierten Inhalten sind z. B. die Competence Site oder Brain Guide.

Generell sollten Unternehmen darauf achten, dass sie in der Diskussion informativ, ehrlich und offen und nicht manipulativ oder werblich kommunizieren. Das gilt verschärft, wenn zum Beispiel Kommentarfunktionen von Blogs genutzt werden. Fehlverhalten kann hier, wieder durch die Verstärkerwirkung, herbe Imageschäden nach sich ziehen.

Die aktive Teilnahme an Web-Diskussionen eignet sich vor allem für Unternehmen, die im Business-to-Business-Marketing Lösungskompetenz demonstrieren und persönliche Kontakte knüpfen wollen.

Weitere nutzbare Plattformen sind beispielsweise die Video-Website YouTube oder die Bookmark-Sammlung del.icio.us. Intelligente Werbefilme können sich über YouTube weltweit und viral verbreiten, wenn sie den Nutzern gefallen. Auf del.icio.us lassen sich öffentlich sichtbare Bookmarks auf die eigenen Inhalte setzen, was Besucher anzieht und Page-Rank der eigenen Seite verbessert.

Eigene Web-2.0-Plattformen anbieten
Eigene Web-2.0-Angebote beginnen mit dem Geschäftsführer-, Experten- oder Mitarbeiterblog und reichen bis zum Aufbau eigener Community-Plattformen. Sie können der Information dienen (Expertenblogs), die Unternehmensmarke stärken (Mitarbeiterblog, wenn Mitarbeiter sich stark mit dem Unternehmen identifizieren) oder Kunden langfristig und eng binden. Themenblogs eignen sich zum Beispiel hervorragend, um Lösungskompetenzen zu demonstrieren und mit Kunden und Interessenten über Kommentar- oder Verlinkungsfunktionen (Trackbacks zwischen Blogs) ins Gespräch zu kommen (siehe Artikel Themenblogs LINK DORTHIN).

Eigene Community-Plattformen anzubieten, auf denen Kunden beispielsweise Blogs führen, mit anderen Mitgliedern diskutieren und sich vorstellen können, ist eine effektive Option für Markenartikel-Hersteller, die designte Erlebniswelten zur Markenbildung und Kundenbindung einsetzen wollen. So bietet zum Beispiel der Hersteller von Sportnahrungsmitteln Powerbar seinen registrierten Kunden an, Trainingsblogs zu publizieren. Henkel geht noch einen Schritt weiter, und stellt Frauen mit dem Womensnet (LINK www.womensnet.de) ein ganzes Diskussionsforum zu Frauenthemen zur Verfügung.

Von der Mitmach-Gelegenheit zur Mitmach-Pflicht
Noch ist das Mitmach-Netz lediglich eine Möglichkeit für Unternehmen. In Zukunft wird es jedoch mehr sein. Genauso wie es heute kaum noch Unternehmen gibt, die keine Website betreiben – sehen wir einmal von den vielen kleinen, lokal agierenden Gewerbebetrieben ab –, wird es sich in wenigen Jahren keine Firma leisten können, auf Web-2.0-Funktionen und -Methoden zu verzichten – die dann vielleicht schon im Web 3.0 aufgegangen sind. Dies gilt umso mehr, da in diesem Beitrag ja lediglich die kommunikativen Aspekte betrachtet wurden. Technische Entwicklungen wie die Softwaretechnologie Ajax für interaktive Webseiten oder der Webservice RSS, über den Nutzer Web-Inhalte abonnieren können, verändern das Funktionieren und die Nutzung von Web-Anwendungen und -Inhalten grundlegend. Damit beeinflussen sie nicht nur die Marketingkommunikation, sondern die Rolle, die das Internet im Geschäftsleben – und im Alltagsleben – grundsätzlich spielt. Die erfolgreiche Etablierung einer kompletten digitalen Lebenswelt mit einer eigenen Wirtschaftsstruktur wie sie Second Life darstellt, zeigt die Richtung schon einmal an.

Bekannte Websites mit Web-2.0-Geschäftsmodell

www.youtube.com, eine der Hype-Sites des Web 2.0 und Vorbild aller Web-2.0-Start-ups, Videoplattform
www.myspace.com, Community-Website mit vielfältigen Funktionen: Profile, Blogs, Bilder, etc., funktionell vielleicht die kompletteste Web-2.0-Seite, hat auch das Musikmarketing revolutioniert, indem es Bands, die sich dort präsentieren, unabhängig von großen Labels gemacht hat.
www.xing.de, Networking-Plattform, deutsches Web-2.0-Paradeunternehmen
www.wikipedia.de, die Web-2.0-Seite der Schwarm-Intelligenz, Laien-Lexikon
www.flickr.de, eine der Pionierseiten des Web 2.0, Foto-Plattform.

Unternehmensseiten mit Web-2.0-Funktionen

www.amazon.de, Leserkritiken, Bücherbewertungen, Bücherlisten
iTunes (nur mit eigener Software erreichbar), Musikkritiken, Songbewertung, Liedlisten
www.globetrotter.de, Outdoor-Versender, Produktkommentare, Produktbewertungen
www.powerbar.de, Sportnahrung, Blogs, Foren, Kundenclub
http://www.nike.com, Trainingstagebücher

Web2.0-Angebote von Unternehmen

www.integration-blog.de, Magic Software Enterprises, Anbieter von Werkzeugen für Software-Entwicklung und -Integration, Themenblog zu Software-Integration
www.reisberichte.de, Globetrotter, Portal zur Veröffentlichung von Reiseberichten
www.womensnet.de, Henkel, Frauenportal mit Foren

Autor:

Hartmut Giesen ist Journalist und publiziert regelmäßig praxisorientierte Beiträge zu Strategie, Marketing, Management und Wissenschaft/Technik.