Marketingfalle für Neuprodukte

Die Konsumgüterindustrie lanciert Zehntausende von neuen Produkten pro Jahr, und die Statistiken zu Innovationsraten der Unternehmen überschlagen sich. Der Aufwand hinter all den Produkt- und Markenneueinführungen ist ein komplexer und kostenintensiver Prozess. Ernüchternd ist das Ergebnis: Die Flopquote aller Einführungen von Fast-moving Consumer-Goods in Deutschland liegt laut Gesellschaft für Konsumforschung zwischen 50 und 60 Prozent.

Mehr als die Hälfte aller neuen Produkte und Marken wird also zwölf Monate später wegen Erfolglosigkeit aus den Regalen des Handels geräumt. Das ist eine gigantische Wertevernichtung, über die Aktionäre wie Unternehmen gigantisch besorgt sein sollten.

Kein Wunder, dass der Berufsstand der Marketer und der Marktforscher unter Beschuss steht, zumindest unter starker Beobachtung seitens der Controller. Es wird mehr nach „Return on Marketing Investments“ gefragt. Berater bieten vermehrt ausgeklügelte Modeling-Modelle, um der Unternehmensleitung mehr Sicherheit zu vermitteln, die es aber nicht gibt und nie geben wird. Die Aufgaben des Chief Marketing Officer sind durch die Digitalisierung des Marketings zwar immer komplexer geworden, aber ist es an der Zeit, dass sich Marketingverantwortliche wieder auf den Kern ihrer Aufgabe zurückbesinnen: nachhaltigen Unternehmenswert schaffen durch den langfristigen Auf bau von Marken.

Marketing als Keimzelle für profitables Wachstum

Die größten Erfolge in der Marketinggeschichte wie Red Bull, Nivea, Lululemon, Starbucks, Louis Vuitton oder Nike sind Erfolge der Marketer, die ein Gespür für die Bedürfnisse ihrer Zielgruppe hatten und zur richtigen Zeit mit einer Marke oder Produktinnovation auf den Markt kamen, die sich von anderen differenzierte und für den Konsumenten von höchster Relevanz war. Marketing als marktorientierte Unternehmenspolitik ist die Keimzelle für profitables Wachstum. Nur wenn die Marke als psychologisches Trägersystem stetig gepflegt wird und für differenzierende und relevante Innovationen steht, kann sich ein Markenartikelunternehmen erfolgreich am Markt behaupten und Marktanteile gewinnen.

In schnelllebigen und wettbewerbsintensiven Märkten muss der Markenartikel heute ständig Anreize schaffen und im Wettbewerb mit den Handelsmarken immer einen Schritt voraus sein, um Mehrwert zu generieren, der sich kapitalisieren lässt. Deshalb ist die Innovations- und Neuproduktpolitik von zentraler Bedeutung, und genau hier passieren die meisten Fehler, wie die dramatische Flopquote zeigt. Dabei gibt es im Innovationswertschöpfungsprozess zwei Kernursachen, warum sich neue Produkte und Marken nicht in den Köpfen und Herzen der Verbraucher verankern.

Warum so viele Innovationen scheitern

Eine Kernursache für einen späteren Flop findet sich schon in der Konzeption der Produkt- oder Markenidee. Diese ist ein Versprechen, das die Marke gegenüber dem Konsumenten tätigt. Die Idee sollte man in drei Sätzen formulieren können. Zwei Kriterien sind elementar: Ist die Idee einzigartig, differenziert sie sich vom bestehenden Angebot, oder bietet sie wenigstens ein „Mehr“ im Vergleich zum Wettbewerb? Und hat die Idee eine Relevanz in der angestrebten Zielgruppe? Die meisten Neuheiten scheitern daran, dass sie Verbrauchern nichts Neues bieten. Die andere Kategorie von neuen Produkten bietet zwar etwas Neues, aber keiner braucht es. Es liegt kein ausreichendes Bedürfnis oder Verlangen vor oder es gibt zu wenig Konsumenten, damit sich die Einführung rechnet.

Mir lagen als Marketingmanagerin schon mehr als 20000 Innovationskonzepte vor – die meisten sind an den beiden oben gestellten Fragen gescheitert. Einzigartigkeit ist nicht nur über den funktionalen Nutzen zu erreichen; es kann auch „alter Wein in neuen Schläuchen“ sein. Im Gesichtspflegemarkt hat Garnier mit der Einführung der „BB Cream“ einen riesigen Erfolg erzielt und ein dauerhaftes Segment kreiert. Funktional gesehen unterscheidet sich die „BB Cream“ nicht wesentlich von einer getönten Tagescreme, aber es ist gelungen, die Kombination aus Pflege und Haut im Erscheinungsbild neuartig zu verkaufen, was auf ein sehr relevantes Bedürfnis traf.

In internationalen Konzernen besteht das Bestreben, Marken zu globalisieren, die es schon in Ländern gibt oder die im Laufe der Zeit zugekauft wurden. Doch was etwa in den USA erfolgreich platziert ist, muss nicht in anderen Ländern funktionieren. Womöglich gibt es das Konzept schon im neuen Zielmarkt. Der Aufbau neuer Marken ist in der zersplitterten Medienlandschaft extrem teuer. Luft für langen Atem bleibt wegen der Rentabilitätsanforderungen in Unternehmen selten.

Die zweite Kernursache des Scheiterns von Innovationen ist die Auswahl des Markendaches. Die Marke bindet im Idealfall Konsumenten langfristig. Die Marke wird durch die Bindungs kraft widerstandsfähiger gegen die Angriffe des Wettbewerbs. Produktinnovationen oder Line-Extensions müssen jedoch zur Marke passen, um glaubwürdig zu erscheinen. Das kann nur bedingt die Marktforschung testen. Eine Haarpflegemarke wie Gliss Kur von Schwarzkopf, die für besondere Repair-Pflege steht, wird als Linie gegen Schuppen scheitern. Natürlich ist das Schuppen-Segment verführerisch, denn es ist groß. Allerdings wird Geld, das in die Schuppen-Linie investiert wird, für die Kern-Linie „Repair“ fehlen. Am Ende floppt die Schuppen-Linie und die Kernlinie wird vernachlässigt, was zu Marktanteilsverlusten führt.

Neue Konzepte unter ungeeignete Marken zu zwingen, weil im Portfolio keine geeigneten zur Verfügung stehen oder der Aufbau neuer Marken zu teuer erscheint, funktioniert kaum. Ein Marketingchef muss auch „Nein“ sagen und Unternehmensleitungen davon abhalten, nicht auf jeden Zug des Wettbewerbes aufzuspringen. Me-too-Produkte sind schwierig. Top-Marken schöpfen den Rahm ab. Nur wenn ein Me-too-Produkt gut zur Zielgruppe der eigenen Marke passt und damit Marken-Fit nebst Konsumenten mehr Relevanz gibt sowie eine Preisdifferenzierung stattfindet, kann man als Zweiter oder Dritter im Markt einen signifikanten Marktanteil generieren. Je stärker sich das Marketing der Aufgabe widmet, wie Marken ihre Einzigartigkeit und Relevanz erhalten, desto weniger muss es den Preis- und Promotionhahn aufdrehen.

Dies hilft kurzfristig, höhlt jedoch langfristig die Marke aus. Kurzum: Wer die erste der beiden nachfolgenden Fragen von Harvard-Professorin Cynthia A. Montgomery mit „Ja“ beantworten kann, hat seinem Unternehmen den größten Dienst erwiesen: „If your brand disappeared today, would the world be different tomorrow? And if they won’t miss you then, how much do they need you now?“.

Über die Autorin: Tina Müller ist seit 1. August 2013 Chief Marketing Officer (CMO) und Vorstandsmitglied bei Opel. Ferner gehört sie zum Kuratorium des Deutschen Marketing-Verbands (DMV). Anfang Oktober ist ihr mit Prof. Hans-Willi Schroiff geschriebenes Buch „Warum Produkte floppen“ erschienen.