Lügner an den Pranger

Die Bedeutung von "Like"-Buttons und Fanseiten in sozialen Netzwerken wird kräftig überschätzt. Dennoch können sich Unternehmen dem Social Web nicht entziehen: Es zwingt sie zur Offenheit und bringt ihnen wieder Benehmen bei.

Von Roland Karle

Manchmal reicht schon ein Stück Fleischwurst aus. Dirk Nowitzki verzehrt es, als er in einer Metzgerei seiner Heimatstadt Würzburg von anderen Kunden erkannt wird und mit ihnen ins Gespräch kommt. Die kleine Geschichte hat sich die ING-Diba, Sponsor des Basketball-Stars, ausgedacht und in einem Werbespot verfilmt. Aber da haben die Banker die Rechnung ohne erregungswillige Vegetarier und Veganer gemacht. Tausende Posts und Kommentare liefen ein. Wer nicht wusste, dass ING-Diba mit Finanzen ihr Geld verdient, hätte die Bank in diesen Tagen für eine Wurstbude halten können.

„Werder-Fans gegen Wiesenhof“

Mit Fanprotesten, Vereinsaustritten und Negativschlagzeilen muss sich Werder Bremen auseinandersetzen, seit der Fußballbundesligist die Firma Wiesenhof als Trikotsponsor vorgestellt hat. Die Geflügelschlächterei ist wegen ihrer Arbeits- und Produktionsmethoden schon länger umstritten. Auf Facebook haben sich Gruppen wie „Werder-Fans gegen Wiesenhof“ formiert und der Grünen-Politiker Jürgen Trittin hat in einem offenen Brief („Lebenslang Werder – kein Tag Wiesenhof“) seinen Rücktritt als Umweltbotschafter des Bundesligisten erklärt. Bremens Manager Klaus Allofs zeigt sich von den heftigen Reaktionen zwar „überhaupt nicht“ überrascht, doch ein durchdachtes Deeskalationskonzept ist nicht zu erkennen.

Auch bei Zalando sind erste Flecken auf der Sympathie-Weste. Nachdem das ZDF über miese Arbeitsbedingungen und Bezahlung berichtet hatte, kündigten auf Facebook und Twitter zahlreiche Kunden an, künftig nicht mehr beim Online-Versandhändler zu bestellen.

ING-Diba, Werder/Wiesenhof und Zalando – drei von vielen Beispielen, die zeigen, wie schnell sich Gruppen in den sozialen Netzwerken des Internets lose und doch wirkungsvoll organisieren. Es braucht oft nur einen kleinen Funken, um ein digitales Fegefeuer zu entfachen.
Das als Shitstorm bekannte Phänomen tritt immer öfter zutage. Die kritische Masse an Social-Media-Nutzern sei erreicht, konstatiert Netzwerkforscher Thomas Zorbach, Geschäftsführer der Marketingagentur VM-People. In den sozialen Plattformen herrscht Echtzeitkommunikation, die Nutzer sind hochgradig vernetzt, eine differenzierte Meinungsbildung wird durch die technischen Funktionalitäten kaum unterstützt, zudem erschweren oberflächlich konsumierte Informationen und spontane Beeinflussung durch „Friends“ und „Follower“ ein rationales Verhalten. All das erklärt, warum die Netzschwärme so leicht erregbar sind.

„Aktuell erleben wir eine nahezu bedingungslose Emanzipation der User, die sich zunehmend kommunikationsfreudiger im Social Web bewegen. Dass sie dort mit solidarischer Unterstützung in der Community rechnen können, macht sie in ihren Äußerungen mutiger“, sagt Johst Klems, Leiter Social Media Marketing der Agentur Crossmedia. Wo ein Empörungswille ist, bahnt sich geschwind ein Weg, diesen laut und weiträumig zu verbreiten. Viele Unternehmen stehen den Entrüstungsstürmen nackt gegenüber, handeln unsicher und ungeübt.
Das animiert nicht gerade zu verstärkter Offensive im Social Web. Doch genau das empfiehlt Experte Zorbach. Angesichts der „Ängste und Verunsicherungen bei Marketingentscheidern vor Shitstorms empfehlen wir, die Social-Media-Maßnahmen zu intensivieren und nicht herunterzufahren.“

„Markenverantwortliche können sich nicht mehr verstecken“

Die Epoche, in der Marken es sich leisten konnten, arrogant und ignorant zu sein, ohne Schaden zu nehmen, ist Vergangenheit.
„Markenverantwortliche können sich nicht mehr hinter ihren Händlern, der Presseabteilung oder dem Kundenservice verstecken“, erklärt Klaus-Dieter Koch, Geschäftsführer Brand Trust. Zusammen mit ECC Handel hat die Nürnberger Managementberatung die Studie „Beyond The Digital Hype“ vorgelegt, für die 1 037 Internetnutzer und 27 Social-Media-Experten befragt wurden.

Das Gerede von Machtverlust ist eine Mär, behauptet Koch. Vielmehr könne dank Internet und der sozialen Medien „in die neuen Stammtische hineingehört und besser reagiert werden. Um im Social Web Empfehlungen zu erhalten, muss man Konsumenten Freiräume einräumen.“ Das Rad der Kommunikation lässt sich eh nicht zurückdrehen. „Social Media finden statt, ob man will oder nicht“, sagt Alexander Decker, Head of Consumer Relations Nestlé Deutschland. „Man kann die Diskussion nicht kontrollieren aber kanalisieren, indem man eine Platt-form für die Diskussion schafft.“

Die Macher von ING-Diba haben sich in der „Wurstaffäre“ daran gehalten. Sie reagierten fast lehrbuchmäßig, indem sie Debatten zuließen und nicht zensierten, zugleich verfolgten sie aufmerksam den Gang der Dinge. Nachdem „wohl alle denkbaren Meinungen und Argumente“ der Nutzer ausgetauscht waren, meldete sich dann das Unternehmen zu Wort. Weitere Posts zu Ernährungsvorlieben würden ab nun von der Pinnwand entfernt, um „den Anliegen unserer Kunden wieder mehr Raum zu geben“.

Die Entscheidung wurde von der Facebook-Gemeinde überwiegend akzeptiert, das Echo war positiv. Mehr noch: Als es um die Wurst ging, argumentierten viele Diskutanten pro ING-Diba. Und die Aufmerksamkeit für den Werbestreifen mit Nowitzki stieg enorm, allein auf Youtube wurde der Spot bislang rund 106 000 Mal geklickt.Das sind klare Indizien dafür, dass Thomas Zorbach mit seiner Einschätzung richtig liegt, wonach Unternehmen, die über ein Netzwerk aus starken Verbindungen und Anhängern verfügen, gut präpariert sind. Denn: „Im Krisenfall ist ein solches Unternehmen in der Lage, seine Fans zu aktivieren, bevor ein größerer Imageschaden entsteht.“

Mehr Offenheit im Umgang mit Marken und Kunden

Social Media zwingen Unternehmen zu mehr Offenheit, ob sie wollen oder nicht. „Auffällig ist, dass vor allem Marken, die Probleme mit der Qualität oder der transparenten Darstellung ihrer Produkte haben, im Social Web leichter in Schwierigkeiten geraten“, sagt Agenturmann Klems. Wer Authentizität nur als Modewort auf dem Firmenprospekt spazieren trägt, wird früher oder später abgestraft. „Ein offener Umgang mit der Marke und den Kunden ist künftig unumgänglich“, betont der Experte. Klaus-Dieter Koch geht noch einen Schritt weiter.
Jede Lüge werde entlarvt.“Das Internet bringt Unternehmen wieder Benehmen bei. Die mit der Globalisierung einhergehende Anonymisierung der Beziehung ist aufgehoben.“

Darin liegt die Chance, Kundenbeziehungen zu intensivieren und Dialoge in Gang zu setzen. Beispiel Telekom: Sie hat auf zunehmende Anfragen und Probleme ihrer Nutzer reagiert, indem sie auf Facebook die Seite „Telekom hilft“ startete. Rund 33 000 Fans haben sich dort versammelt, tauschen sich untereinander aus und wenden sich direkt und oftmals schroff an die Telekom, wo Mitarbeiter im vertrauten Facebook-Du helfen und die Emotionen dimmen.

Umgekehrt zeigt sich, dass das Social Web zum Aufbau und zur Kaufbereitschaft von Marken nur bedingt taugt.
Selbst wenn Firmen noch so eifrig „Like“-Buttons sammeln und über den Zuwachs an digitalen Fans jubeln, so bleibt der konkrete Nutzen für die Marke im Ungefähren. Laut Brand-Trust-Studie will nur ein Drittel der Befragten bei Bedarf ein Produkt der als „Fan“ unterstützten Marke kaufen. Für Berater Koch steht fest: „Online braucht Offline zum Markenaufbau. Denn viele der Inhalte, über die im Web diskutiert oder gevotet wird, haben offline statt-gefunden, sei es durch Events oder auch durch das Nutzungserlebnis von Produkten oder den Kaufakt selbst.“ Der frühere Pepsi-Getränkevorstand Massimo d’Amore zweifelt daher nicht an der Stärke traditioneller Medien.
„Wir brauchen das Fernsehen, um große und fette Statements zu machen.“

Deshalb ist die intelligente Verzahnung der Medienkanäle unverzichtbar.
Befragt nach der bedeutendsten Veränderung in der digitalen Markenwelt der nächsten fünf bis zehn Jahre, verwiesen die Experten nicht wie vielleicht erwartet auf „technologische Entwicklungen“, sondern auf das gelingende Verbinden von Offline- und Online-Kanälen.

Beitrag zuerst erschienen in der absatzwirtschaft dmexo-Sonderausgabe vom 12.09.2012