Kluft zwischen starken und schwachen Regionen wird größer

Deutschland entwickelt sich ökonomisch immer mehr zu einer Zweiklassengesellschaft: Starke Städte und Kreise vor allem im Süden und Südwesten der Republik eilen den restlichen Regionen wirtschaftlich immer weiter davon. Das ist ein zentrales Ergebnis des Zukunftsatlas 2010. Darin hat das Schweizer Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos exklusiv für das Handelsblatt zum dritten Mal seit dem Jahr 2004 die Zukunftsfähigkeit aller Städte und Kreise in Deutschland untersucht. Basis der Studie sind 29 Indikatoren zur wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Lage der Regionen.

Wenige Regionen, die vor allem in Bayern und Baden-Württemberg liegen, treiben laut Zukunftsatlas den derzeitigen Konjunktur-Aufschwung in Deutschland. Sechs der sieben Städte und Kreise, denen Prognos „Top-Zukunftschancen“ attestiert, befinden sich in den beiden süddeutschen Bundesländern. Der siebte Spitzen-Standort – Frankfurt am Main – liegt nur ganz knapp nördlich des „Weißwurst-Äquators“. „Insgesamt sind die starken Regionen erstaunlich gut durch die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre gekommen“, sagt Prognos-Geschäftsführer Christian Böllhoff. Die tiefste Rezession seit Jahrzehnten habe die wirtschaftlichen Strukturen in den Boom-Regionen offenbar nicht dauerhaft beschädigt.

Der Großraum München sei mit Abstand der Wirtschaftsraum in Deutschland mit den besten wirtschaftlichen Perspektiven. Landkreis und Stadt München liegen auf den ersten beiden Plätzen des Prognos-Rankings, die Nachbarkreise Starnberg und Freising folgen auf den Plätzen vier und 13. Die bayerische Landeshauptstadt habe in den vergangenen fünf Jahren so viele Einwohner hinzugewonnen wie keine andere Region in Deutschland – vor allem, weil sie massiv 18- bis 30-jährige aus anderen Winkeln der Republik angezogen hat. Zunehmend strahle die wirtschaftliche Potenz auch in das Münchener Umland aus: Die an die bayerische Landeshauptstadt angrenzenden Landkreise Freising, Ebersberg, Miesbach, Fürstenfeldbruck und der Landkreis Rosenheim verfügten über „sehr gute Zukunftschancen“.

Im Norden und Nordwesten der Republik seien die Zukunftsaussichten dagegen weniger günstig. So schaffe es nur eine einzige Stadt aus Nordrhein-Westfalen – die Landeshauptstadt Düsseldorf (Rang 10) – in die zweitbeste Gruppe der 30 Standorte mit „sehr hohen Zukunftschancen“. Auch aus Niedersachsen seien nur zwei Städte (Wolfsburg auf Platz 9 und Braunschweig auf Platz 22) in dieser Spitzengruppe vertreten. Immer mehr Regionen im Norden und Nordwesten der Republik drohe in den nächsten Jahren der wirtschaftliche Abstieg. Für 38 Städte und Kreise in den alten Bundesländern sieht Prognos mehr Risiken als Chancen. Im Jahr 2004 war dies nur in 19 der Fall. Abgerutscht seien unter anderem das nördliche Ruhrgebiet, die Eifel und die Südwest-Pfalz.

Differenziert sei die Entwicklung in den neuen Bundesländern. Einige wenige Spitzenstandorte hätten sich so gut entwickelt, dass sie inzwischen mit westdeutschen Metropolen auf Augenhöhe liegen. Das gelte vor allem für Jena (Platz 15) und Dresden (Platz 32), denen Prognos jeweils „sehr hohe Zukunftschancen“ bescheinigt. Beide ostdeutschen Städte lassen im Ranking zahlreiche westdeutsche Städte hinter sich – sie schneiden besser ab als Karlsruhe (Rang 37), Mainz (Rang 47) und Köln (Rang 56). Für den großen Rest der neuen Bundesländer sehe es dagegen eher düster aus. Von den 53 Regionen, für die Prognos hohe oder sehr hohe Zukunftsrisiken sieht, liegen 48 in Ostdeutschland. Vor allem Flächenkreise abseits von Metropolen würden es in Zukunft noch deutlich schwerer haben. Die rote Laterne unter allen 412 Städten und Kreisen in Deutschland geht in diesem Jahr an den Landkreis Demmin in Mecklenburg-Vorpommern.

Deutschlandweit schlage für die Städte und Kreise die Stunde der Wahrheit in Sachen Demografie. Zum ersten Mal habe die Mehrheit der Regionen sinkende Bevölkerungszahlen hinnehmen müssen. Wirtschaftlich schwache Regionen erlebten große Bevölkerungsverluste, in starken Regionen würden die Arbeitskräfte knapp. „Die Perspektiven einer Region stehen und fallen damit, wie gut sie den demografischen Wandel meistert,“ erklärt Böllhoff. Die Großstädte seien dabei die klaren Gewinner – überall in der Republik erlebten sie ihr Comeback. Von wenigen Ausnahmen abgesehen seien urbane Zentren die einzigen Regionen, die sich von der negativen Bevölkerungsentwicklung abkoppeln. Städte wie Frankfurt, Dresden und Leipzig hätten in den vergangenen fünf Jahren allesamt zwei bis drei Prozent an Einwohnern hinzugewonnen – und das, obwohl die Bevölkerung in Deutschland insgesamt um 0,6 Prozent geschrumpft sei. „Die Stadtflucht ist Vergangenheit“, stellt Prognos-Regionalexperte Peter Kaiser fest, es gebe einen klaren Trend der Re-Urbanisierung. Die wirtschaftliche Landkarte werde nicht mehr in erster Linie durch den Ost-West-Gegensatz geprägt, sondern zunehmend durch einen Stadt-Land-Gegensatz.

Allerdings gibt es dem Zukunftsatlas zufolge auch Ausnahmen: Einige ländliche Räume gehören zu den Aufsteigern. Einige bereits in der Vergangenheit starke Regionen wie das Emsland und der Landkreis Biberach haben ihre Position ausgebaut. Andere Kreise, denen Prognos früher geringe Zukunftschancen attestierte, haben sich deutlich verbessert – zum Beispiel der Spree-Neiße-Kreis in Brandenburg und der Ilm-Kreis in Thüringen. Generell erwiesen sich hoch qualifizierte Menschen sowie Forschung und Entwicklung als immer entscheidender für die Zukunftsfähigkeit einer Region.

Das Handelsblatt porträtiert in einer Serie vom 16. bis zum 19. November täglich zwei ausgewählte Regionen. Im Einzelnen werden folgende Städte und Regionen vorgestellt: Erlangen und die Eifel (16. November), Frankfurt am Main und der Landkreis Dahme-Spreewald (Mittwoch, 17. November), die Ems-Region und Braunschweig (Donnerstag, 18. November), Ruhrgebiet und Stuttgart / Böblingen (Freitag 19. November).

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