Hat Deutschland ausgeträumt?

Der Traum hat in Deutschland einen schweren Stand. Das sagt zumindest Stephan Grünewald in seinem aktuellen Buch „Die erschöpfte Gesellschaft - Warum Deutschland neu träumen muss“. Denn wir lassen dem Träumen keinen Raum mehr – weder zu Hause noch im Büro. Dadurch, dass wir direkt morgens wieder zum Computer hetzen und Mails checken, sind wir direkt wieder im Arbeitsmodus ohne zu überlegen, welche Priorisierungen und Bedeutungen unsere Träume angemahnt haben.

Herr Grünewald, Sie setzen sich für das Träumen ein. Auf diese Weise könnten wir den Stress, der uns umgibt, besser verarbeiten. Aber es gibt einen Haken: Arbeitnehmer können das für sich nicht beschließen, Führungskräfte müssen es vielmehr ermöglichen.

Führungskräfte und Angestellte sind ja überhaupt erst bereit ihren Arbeitsalltag umzustellen, wenn die Einsicht da ist, dass träumen nicht Zeitverschwendung ist, sondern einen schöpferischen und produktiven Wert hat. Daher ist es auch wichtig unter Produktivitätsgesichtspunkten das Hamsterrad anzuhalten. Ich sehe eine Gefahr darin, dass wir betriebsblind werden und Raubbau an unserer Kreativität und Innovationsfähigkeit betreiben, wenn wir weiterhin in der besinnungslosen Betriebsamkeit bleiben.

Wie sind Sie überhaupt in diesem Zusammenhang auf das Phänomen Traum gekommen?

Das beschäftigt mich als Psychologe mein Leben lang und mir ist in den letzten Jahren aufgefallen, dass es eine zunehmende Traumfeindlichkeit in Deutschland gibt. Als Psychologe ist mir bewusst, dass Träumen ein lebenswichtiges Korrektiv ist, gerade weil nachts die Motorik still gelegt ist. Dann hat die Phantasie Narrenfreiheit und die Träume rücken in den Blick, was über Tag in der Betriebsblindheit untergegangen ist, wie unerfüllte Sehnsüchte oder ungelöste Probleme. Unser Bezug zu unseren Träumen ermöglicht uns dann aus dieser Alternativlosigkeit des Hamsterrades rauszukommen und wirklich andere Prioritäten im Alltag zu setzen.

Sie provozieren sogar und sagen, dass jeder, der mehr als acht Stunden arbeitet, mit Gehaltsabzug bestraft werden sollte. Können einzelne sich gegen ein systemimmanentes Problem (das der permanenten Unruhe in der Gesellschaft) stemmen?

Es geht mir hier um die Durchbrechung der Erschöpfungskonkurrenz, wo jeder betriebsamer sein möchte als der andere. Wir sollten uns vielmehr wieder fragen, wie wir die vorhandenen 40 Stunden in der Woche sinnvoll gestalten können und wenn es 50 Stunden sind, dann mal wieder herunterzufahren, denn wir laufen Gefahr die Rhythmen zu verlieren.

Sie sprechen von Tages- und Traumlogik als ein notwendiges Gegensatzpaar. Das heißt bei allem rationalen Denken ist ein bisschen träumen am Tag notwendig, um beispielsweise Neues schaffen zu können. Tagträume sind aber nicht gerade gut gelitten, nicht mal mehr beim Bahnfahren …

Das ist aber falsch. Wenn ein Mensch vor sich hinschaut, ist er meist in einem höchst schöpferischen Modus. Der Modus geht uns aber zunehmend verloren. Beim Bahnfahren wird sich meist sofort in den Laptop vertieft. Man sprach früher vom Blick über den Tellerrand. Heute müsste es heißen, der Blick über den Laptop-Rand.

Das ist ein gutes Stichwort: Die Jugend bemüht dann sogar den zweiten Bildschirm oder auch neudeutsch „Second Screen“. Das heißt, gesellschaftlich gesehen, sind wir vom Träumen weit weg.

Ja, aber ich denke, dass in diesem Jahr das Erschöpfungsprinzip der Überbetriebsamkeit ernsthaft in Frage gestellt wird, weil es die letzten Jahre überreizt worden ist. Es gibt hier schon ein paar Gegenbewegungen.

Sind das signifikante Tendenzen oder Ausreißer?

Es sind Anzeichen eines Umdenkens: Jugendliche zum Beispiel fangen an, Schrebergärten zu mieten, junge Menschen bepflanzen und gestalten beim Guerilla-Gardening ihren Nahbereich oder auch der Erfolg der Zeitschrift „Landlust“ ist so ein Indikator für eine produktive Entschleunigung. Und wenn man schaut, wie sich die Namen von Restaurants und Kneipen wandeln Beispiel „Gottes grüne Wiese“ oder „Hans im Glück“, sieht man, dass wieder eine märchenhafte Traumlogik im Alltag Einzug hält.

Die Jugend erlebt hingegen unsere Gesellschaft – auch aufgrund dieser Dynamik – als zerrissen. Darum würden sie zum Spießertum tendieren und alte Tugenden aufleben lassen, an denen sie sich gleichsam festhalten, so Ihre Beobachtung. Was bedeutet das für die zukünftige Kommunikation und das Marketing von Unternehmen?

Neben der Ehrlichkeit ist ein Kernwert die Verlässlichkeit. Denn die jungen Menschen haben immer den Argwohn, dass die Verhältnisse nicht mehr tragfähig sind. Daher suchen sie Stabilität. Sie wollen an die Hand genommen werden. Das heißt, Beratung im Handel wird möglicherweise wieder wichtiger. Das muss sich auch in den Bilderwelten fest machen. Junge Leute träumen nicht mehr von grenzenloser Freiheit und Unabhängigkeit, sondern von einem geordneten Rahmen. Ich beschreibe in meinem Buch, dass ein Vater den Blick auf den Ozean liebt, während der Sohn lieber auf einen Gartenzaun schaut.

Und wie müssen sich die Unternehmen in Sachen Employer Branding zukünftig aufstellen, wenn sie die jungen Menschen erreichen wollen?

Es ist wichtig eine Führungsmannschaft zu haben, die Mitarbeiter anleiten und eine klare Struktur vermitteln kann, die eine gute Work-Life-Balance ermöglicht. Mittlerweile gibt es ja Unternehmen wie VW, die ab einer bestimmten Uhrzeit keine E-Mails mehr durchlassen. Wichtig ist zudem den jungen Leuten zudem eine Sinnhaftigkeit bei der Arbeit zu finden. Sie wollen nicht um jeden Preis weiterkommen, sondern in ihrem Unternehmen ankommen.

Was machen Sie denn, um wieder frei Atmen oder träumen zu können?

Wenn der Wecker um halb sieben klingelt, bleibe ich eine Viertelstunde liegen und gehe nochmals meinen nächtlichen Träume nach. In diesem Zusammenhang merke ich dann, dass bestimmte Projekte eine andere Gewichtung und Priorisierung bekommen. Auch lange Duschen, ein gemeinsames Frühstück mit der Familie, wo man den Tag regelrecht „durchkaut“ und die anstehenden Probleme bespricht, sind gute Möglichkeiten. Ich finde es persönlich auch wichtig, noch eine halbe Stunde in der Zeitung zu schmökern, weil das auch nochmal durchlässiger macht. Und bezogen auf die Arbeit mache eine dreiviertel Stunde Mittagspause und kickere mit den Kollegen, wenn ich nicht auf Reisen bin. Und ganz radikal gedacht, könnte ein Unternehmen auch Ruheräume zur Verfügung stellen, wo die Mitarbeiter sich mal eine viertel Stunde aufs Ohr legen können. Dabei wird so viel verarbeitet. Das ist eine mentale Frischzellenkur.

Das Gespräch führte Christian Thunig.