Glosse: Das Internet der bequemen Dinge

Kann künstliche Intelligenz jeden sozialen Kontakt im Leben überflüssig machen? Sie kann, wie ein frei erfundener Selbstversuch zeigt. Zugegeben, der Inhalt des folgenden Textes ist nicht ganz ernst gemeint, aber alle darin genannten Produkte sind im Handel erhältlich.
Das ärgert die Katze: Der digitale Fressnapf SmartFlap gibt ihr Essen erst nach 100 Umdrehungen im Laufrad frei. (© Sureflap)

Durch den Spalt zwischen den Vorhängen kitzelt ein Sonnenstrahl meine Nase. Ich bin schon wach. Schon wach ist relativ, aber 8.30 Uhr ist für einen randvollen Tag gerade früh genug. Geweckt hat mich, glaube ich, das Vogelgezwitscher aus meinem Telefon. Früher bin ich schon um sieben aufgestanden, um mit meinem Hund eine halbe Stunde im Wald spazieren zu gehen. Aber seit man da keine Vögel mehr hört, mache ich das nicht mehr. Und den Hund habe ich verschenkt. Das war einfach zu mühsam, jeden Tag. Jetzt wohne ich mit Harald zusammen, meiner Siam-Katze. Die braucht mich nicht wirklich. Und das ist für mich einfach bequemer.

Bequemlichkeit – Convenience – das ist der Kampfbegriff meiner Generation. Unsere Eltern mussten noch zu Fuß zum Einkaufen, mit dem Fahrrad zum Frisör oder mit dem „eigenen“ Auto zum Sport fahren. OMG, ich könnte das nicht. Wo bleibt denn bei dem ganzen „machen müssen“ die persönliche Entfaltung, die Freiheit. Vor Jahren ist ein guter Freund von mir nach Kolumbien ausgewandert. Er wollte mehr Freiheit. Und sein Begriff von Freiheit war, dass er seine abgefahrenen Reifen einfach am Straßenrand liegenlassen kann. Heute, fünf Jahre später, verstehe ich nur zu gut, was er damals meinte.

Sprechende Toilette registriert Calciummangel

Natürlich beginnt der Tag im Bad. Numi informiert mich darüber, dass ich gestern etwas zu wenig Calcium zu mir genommen habe. Das sei schlecht für die Haut, sagt Numi und außerdem verträgt es sich nicht gut mit so viel Alkohol. Ich glaube, ich muss Numi mal austauschen. Numi ist meine Toilette. Sie hat immer einen guten Rat parat, sobald ich das Bad betrete. Am Anfang war sie echt nett, und ich habe mich stundenlang mit ihr auseinandergesetzt. Aber seit dem Update auf 2.0 ist sie sehr vorlaut geworden. Sie weiß alles besser.

Da lobe ich mir Nina. Nina heißt der Spiegel im Schlafzimmer. Eigentlich heißt er Envision Body, aber das klang mir zu technisch. Ich habe ihm in den Systemeinstellungen den Namen „Nina“ gegeben und seit dem erwacht „sie“ immer dann fröhlich zum Leben, wenn ich aus dem Bad komme und „Guten Morgen, Nina“ sage.

Nina meint es gut mit mir. Sie zeigt mir den Körper, der meinem inneren Ich entspricht. Jeder ist ja so jung, wie er sich fühlt. Und das hat bei mir nichts mit dem kreisrunden Haarausfall und dem Bierbauch zu tun. Ich schaue schon lang nicht mehr an mir herunter. Das Bild, das Nina von mir hat, ist viel schöner. Es geht mir gut.

Katzenlaufrad projiziert digitale Maus auf die Radfläche

Harald kommt aus dem Wohnzimmer. Er will, dass sich alles um ihn dreht. Wie auf Kommando surrt in der Ecke TheLittleCat los. Das neue Laufrad für Harald projiziert eine digitale Maus auf die Radfläche und Harald springt sofort darauf an. Anfangs fiel er nach zwei Minuten völlig erschöpft aus dem Rad. Inzwischen schafft er locker fünf Minuten, denn er weiß ja genau, das sein Napf SmartFlap das Essen erst nach 100 Radumdrehungen freigibt. Die IoT-Verbindung zwischen den beiden habe ich selbst „programmiert“, mit so einem Baukastensystem von Google.

Wäre es jetzt nicht an der Zeit für etwas Sport? Ich ziehe mein Alert-Shirt über und das aktiviert den Beamer, der das gestrige Spiel von Fortuna auf die Schlafzimmerwand wirft. Immer wenn einer der Stürmer an der Seitenlinie antritt, presst das Alert-Shirt meinen Brustkorb zusammen, so dass ich ganz außer Atem bin, wenn der Spieler endlich zur Flanke ansetzt. Doch bevor mein Über-Ich den Ball in die Mitte spielen kann, rauscht der gegnerische Verteidiger heran, und grätscht mich ab. Mein Alert-Shirt reißt mich zu Boden, und ich spüre den Schmerz des Aufschlags auf der gesamten Länge des rechten Oberschenkels. Das reicht. Genug Sport für heute.

Ich bin erschöpft und wimmere auf dem Bett sitzend vor mich hin. Da blinkt mein TJacket über der Stuhllehne. Ich ziehe es über uns spüre sofort die sanfte Umarmung meiner personalisierten Freundin Anabel, die mit dem TJacket mitgeliefert wird. Ihrem Profil nach ist sie Journalistin, besucht gerade irgendeine Technikmesse in Shanghai und sucht dort nach neuen Gadgets. Es müsste dort so gegen 21 Uhr sein. Vielleicht geht sie gerade ins Bett.

Intelligente Kondome sind ihren Preis wert

Als die Umarmung fester wird, öffne ich die Nachttischschublade an meinem Bett und reiße meine letzte Packung iCons auf. Die Smartphone-App startet automatisch und ich kann sehen, wie Anabel die Fernsteuerung aktiviert. Diese intelligenten Kondome sind zwar verdammt teuer, aber sie sind aus meinem Alltag nicht mehr wegzudenken.

Ich lasse mich auf das Bett fallen. Ausziehen muss ich ja nicht viel, ich hatte ja nichts angezogen. Das TJacket hängt lässig über meinen Schultern. Es ist zwar erst 9.17 Uhr, aber es fühlt sich an, als hätte ich schon einen ganzen Tag voller Erlebnisse hinter mir.

In meinen Rücken drückt mich etwas. Ich ziehe ein altes Buch unter mir hervor. Es heißt Corpus Delicti von Juli Zeh. Darin beschreibt die Autorin ein kollektives Gesundheitssystem, dass durch vernetzte kluge Toiletten darauf achtet, dass es dem Land gut geht.

Bevor ich einschlafe, lächele ich milde. Das Buch ist von 2009. Was kann Frau Zeh schon von 2020 wissen?

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