„Es ist unabdingbar, dass Hersteller und Handel miteinander reden.“

Kooperationen zwischen Lebensmitteleinzelhändlern und Markenartiklern sind ins Visier des Kartellamts geraten, weil es hinter den Kooperationen wettbewerbsschädigendes Verhalten vermutet. absatzwirtschaft sprach mit dem Pricing-Experten Prof. Hermann Simon und Marketingforscher Prof. Martin Fassnacht von der WHU in Vallendar über die Konsequenzen für die Kooperationspartner.

Bei Markenartiklern und Händler herrscht große Unsicherheit, welche Verhaltensweisen zulässig sind. Halten Sie die Bedenken des Kartellamts bei Absprachen zwischen Industrie und Handel für gerechtfertigt?

HERMANN SIMON: Das Kartellamt hat auf diversen Veranstaltungen klargestellt, dass es ausschließlich gegen eindeutige Verletzungen des Kartellrechts vorgeht. Falls ein Hersteller versucht, durch Druck eine Preisbindung durchzusetzen, so war dies schon vor den Durchsuchungen des Kartellamts verboten, und das war auch allen handelnden Akteuren bewusst. Nicht in Ordnung ist es, eine ganze Branche unter einen Generalverdacht zu stellen. Aber dies weist das Kartellamt ja auch von sich.

MARTIN FASSNACHT: Im europäischen Vergleich haben wir im deutschen Lebensmitteleinzelhandel ein sehr niedriges Preisniveau. Das zeigt, dass der Wettbewerb funktioniert. Es ist also falsch, bei jeglichem Austausch zwischen Hersteller und Handel eine Preisabsprache zu vermuten. Dies führt nur zu Verunsicherungen. Es ist unabdingbar, dass Hersteller und Handel miteinander reden.

Das sieht das Kartellamt möglicher Weise anders. Denn laut einer GfK-Untersuchung findet nur in 40 von 275 gängigen Warengruppen Preiswettbewerb statt, aber nicht flächendeckend.

FASSNACHT: Bei diesen 40 Warengruppen, die laut GfK immerhin 50 Porzent des FMCG-Umsatzes ausmachen, spricht die GfK von einem Preiskampf, also der härtesten Form des Preiswettbewerbs. Andere Formen des Preiswettbewerbs finden mit Sicherheit auch in weiteren Produktkategorien statt. Schließlich erwirtschaftet der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im europäischen Vergleich die niedrigsten Umsatzrenditen. Laut Statistischem Bundesamt sind die Lebensmittelpreise im Februar 2011 im Vergleich zum Vorjahresmonat um 3,4 Prozent gestiegen. Vor dem Hintergrund der stark gestiegenen Rohstoff- und Energiepreise ist dies nicht verwunderlich.

Setzt das Kartellamt nicht mit den Maßnahmen, die in der Handreichung des Kartellamtspräsidenten beschrieben sind, das Rechtsinstitut der unverbindlichen vertikalen Preisempfehlung außer Kraft und untergräbt somit das Rechtsinstitut des Markenartikelvertriebs?

SIMON: Nein. Allerdings hat die Handreichung für Verunsicherung gesorgt. Einige Hersteller haben sich gefragt, ob sie nur noch kommentarlos eine UVP-Liste übergeben dürfen. So war die Handreichung jedoch nicht gemeint. Das Kartellamt hat Praktiken aufgezählt, die zu dem Verdacht der Preisabsprache führen können, nicht müssen. Natürlich dürfen Hersteller ihre unverbindlichen Preisempfehlungen erläutern und beispielsweise durch die Darstellung durchgeführter Untersuchungen begründen. Aber es darf eben kein Druck ausgeübt werden. Das Kartellamt hat sich mit der Handreichung alles offen gelassen, die Handreichung ist weder eine Positiv- noch eine Negativliste.

FASSNACHT: Nein, der Hersteller kann weiterhin eine unverbindliche Preisempfehlung geben. Da es eine unverbindliche Preisempfehlung ist, kann der Handel davon abweichen. Der Handel macht die Preise gegenüber dem Endverbraucher. Dies spiegelt sich im Lebensmitteleinzelhandel im niedrigen Preisniveau wider. Alle Betriebsformen, nicht nur Discounter, sind preispolitisch aktiv. Hersteller müssen daher den Mehrwert ihrer Marke gegenüber dem Handel deutlich machen. Starke Marken werden auch weiterhin adäquate Preise erzielen, weil sie einen Kundennutzen bringen.

Werden Hersteller durch eine zu enge Auslegung von Preisabsprachen eines wesentlichen Elements ihrer Markenführung beraubt?

SIMON: Es gibt keine zu enge oder zu weite Auslegung von Preisabsprachen, sie sind verboten. Allerdings muss es den Herstellern möglich sein – und das ist geltende Rechtslage – ihre unverbindliche Preisempfehlung zu erläutern und zu begründen. Der Handel kann von der UVP abweichen: Dies ist genau der Unterschied zwischen unverbindlicher Preisempfehlung und vertikaler Preisbindung, die ja bereits seit 1974 nicht mehr zulässig ist.

Bei der Bewertung von Kooperationen ist im Hinblick auf Wettbewerbsbeschränkungen die Effizienz eine wichtige Beurteilungsgröße. Aber ist die Effizienz als eine volkswirtschaftliche Größe der richtige Maßstab? Müssten nicht auch betriebswirtschaftliche Größen in der Beurteilung der kartellrechtlichen Verhältnismäßigkeit Berücksichtigung finden?

FASSNACHT: Volkswirtschaftliche Begriffe haben ein hohes Abstraktionsniveau. Die Effizienz ist sicherlich eine wichtige Beurteilungsgröße, wenn es um die Bewertung von Kooperationen geht, aber auch ein schwer messbarer Begriff. Allerdings umfasst die Effizienz auch eine Betrachtung der Warenverteilung und damit werden auch betriebswirtschaftliche Größen berücksichtigt. Das ist gut so und sollte in noch höherem Maße geschehen.

SIMON: Das Kartellamt ist dem Wettbewerb und den aus einem funktionierenden Wettbewerb folgenden Marktergebnissen verpflichtet. Insofern beurteilt es die Effizienz eines Marktes. Betriebswirtschaftliche Überlegungen fließen da nur am Rande ein. Wenn es z.B. in einer Produktkategorie aufgrund von Wettbewerb zu einem Ausscheiden von Marktteilnehmern kommt, so ist das betriebswirtschaftlich für das einzelne Unternehmen negativ, volkswirtschaftlich im Sinne des Wettbewerbs aber vielleicht wünschenswert.

Der Münsteraner Marketingforscher Dieter Ahlert forderte kürzlich eine Freigabe der vertikalen Preisbindung. Sollten wir zu den Rahmenbedingungen der 60er Jahre zurückkehren?

SIMON: Insgesamt sehe ich keine Notwendigkeit, zur Preisbindung zurück zu kehren. Die Marktergebnisse in Deutschland entsprechen in hohem Maße den Zielsetzungen des Kartellamts: Im europäischen Vergleich haben wir in Deutschland ein sehr niedriges Preisniveau bei einer hohen Versorgungsdichte. Jeder, der schon einmal in Frankreich einkaufen war, hat das am eigenen Leib erfahren. Und dies lässt sich auch statistisch zeigen. Ich denke, viele Hersteller und Händler sind über die Untersuchungen des Kartellamts verwundert, gerade weil die Marktergebnisse in Deutschland eine hohe Effizienz zeigen. Trotzdem muss das Kartellamt natürlich bei Verstößen einzelner Unternehmen tätig werden. Im Übrigen reden wir hier über geltendes europäisches Recht, welches auch nicht einfach in Deutschland geändert werden kann.

FASSNACHT: Herr Kollege Ahlert hat das aus meiner Sicht so nicht gesagt. Wenn ich Herrn Kollege Ahlert richtig verstehe, spricht er von einer Befürwortung von vertikalen Vereinbarungen zwischen Hersteller und Handel und nicht von der Freigabe der vertikalen Preisbindung. Eine vertikale Preisbindung, wie sie vor 1974 üblich war, ist inhaltlich nicht sinnvoll und auch rechtlich nicht durchsetzbar.

Vertikal strukturierte Unternehmen haben die Möglichkeit, die Preise selbst festzusetzen. Entsteht dadurch nicht eine Wettbewerbsverzerrung, wenn ich dem einen erlaube, die Preise festzusetzen, dem anderen nicht?

FASSNACHT: Vertikal strukturierte Unternehmen haben den Vorteil, ihre Preise selbst festsetzen zu können. Sie haben aber auch höhere Fixkosten und müssen andere Kompetenzen aufbauen, um die gesamte Warenkette professionell managen zu können.

Was empfehlen die Pricing-Experten in dieser unsicheren Situation? Welche Möglichkeiten gibt es, das Instrument Preis im vertikalen Vertrieb nicht aus der Hand zu geben?

FASSNACHT: Hersteller können eine unverbindliche Preisempfehlung aussprechen und diese erläutern und begründen. Die Leistung eines Produktes muss gegenüber dem Handel klar dargestellt werden. Dazu sind Markenaufbau und Markenpflege notwendig. Für eine bessere Argumentation der unverbindlichen Preisempfehlung gegenüber dem Handel sollten Hersteller stärker die Endverbrauchersicht einnehmen, um den Kundennutzen zu verdeutlichen.

SIMON: Es ist ganz klar, aber nicht immer einfach: Die Hersteller müssen sich auf Markenartikel-Politik besinnen:
1. Gute, nachvollziehbare unverbindliche Preisempfehlungen, die sich an der Stärke der Marke und den Zahlungsbereitschaften der Kunden orientieren (keine Wunschträume) verbunden mit
2. einem auf Gegenleistung basierenden Konditionensystem gegenüber dem Handel. Echte Markenartikel haben beides!
3. Darüber hinaus müssen die Hersteller echte Markenartikel und nicht nur markierte Produkte anbieten, d.h. vor allem auch in Endverbraucher-Kommunikation investieren.
4. Im Bereich der Produkt- und Sortimentspolitik müssen sich die Hersteller auf starke Produkte und starke Marken konzentrieren und ihr Portfolio nicht mit zu vielen SKUs verwässern.

Wenn dieser Politik gefolgt wird, hat der Hersteller die größten Chancen, seine UVPs vom Handel auch umgesetzt zu sehen, da der Handel langfristig dann kein Interesse hat, von ihnen abzuweichen.

Das Gespräch führte Peter Hanser anläßlich der Preisverleihung des Georg-Bergler-Preises für Absatzwirtschaft an Professor Simon und Professor Fassnacht für ihr Buch „Preismanagement“.