Economist-Marketingchefin: „Data-Tools sind unschätzbar wertvoll“

Während allerorten die Auflagen der Zeitschriften einbrechen, gewinnt der Economist aus London global stetig neue Leser – vor allem durch eine mutige Digitalstrategie. Marketingchefin Marina Haydn über eine Erfolgsstory gegen alle Trends.
Martina Haydn ist Marketingchefin bei der britischen Zeitschrift "The economist".

Frau Haydn, in Deutschland erleben wir derzeit eine Sinnkrise der großen aktuellen Magazine. Haben Spiegel, Stern und Focus anders als der Economist die Zeichen der Zeit zu spät erkannt? 

Marina Haydn: Ich habe festgestellt, dass es in deutschen Medienhäusern einen großen Respekt für das Businessmodell des Economist gibt, das in erster Linie leserorientiert ist, ob in gedruckter oder in digitaler Form. Unsere Inhalte werden verkauft, ob auf dem Tablet oder auf  Papier, das bleibt dem Leser überlassen. Dieses Kernelement unserer Strategie scheint bei manchen deutschen Verlagen nicht so klar definiert zu sein.

Dennoch haben Sie auch einen großen Vorteil, allein dadurch, dass der Economist Leser in vielen Teilen der Welt hat – und durch die englische Sprache zudem eine sehr große Potenzialzielgruppe. 

Haydn: Das ist richtig, als international agierende Medienmarke haben wir gegenüber regional begrenzten Anbietern derzeit einen Vorteil. Das liegt an drei Trends, die den Wettbewerbern größere Schwierigkeiten bereiten als uns: Punkt eins ist die zunehmende Globalisierung, wo wir durch die wachsende Verbreitung der englischen Sprache sowie das wachsende globale Interesse an internationalen Themen einen doppelten Benefit haben.  Punkt zwei ist die Fragmentierung der Medienlandschaft und die Verfügbarkeit einer Vielfalt von Informationen aus unterschiedlichen Quellen: Da haben wir das Gefühl, dass unsere Leser es honorieren, dass der Economist Informationen anders aufbereitet und eine Berichterstattung mit Tiefgang und Interpretation liefert, die sich qualitativ stark von tagesaktuellem Journalismus abhebt. Trend drei ist die Digitalisierung und die Entwicklung neuer Technologien, die uns die Chance gibt, unsere Leser schneller und im Vertrieb kostengünstiger zu adressieren als zuvor. Darüber hinaus ist es uns nun möglich, neue Leser zu erreichen, die wir früher gar nicht hätten finden können. In der Summe führt das dazu, dass die Leserschaft des Economist weiter wächst.

Die Fragmentierung der Medienwelt hat dazu geführt, dass wir völlig neue Marken verzeichnen, die mit einer – sagen wir – sehr speziellen Herangehensweise in kurzer Zeit hohe Nutzerzahlen verbuchen. 

Haydn: Mein aktuelles Lieblingsbeispiel ist Buzzfeed, das mit eher schwachem Content eine Nische füllt: Zeitvertreib. Ich denke, dass man heute sehr genau definieren muss, welche Lücke das eigene Angebot im immer enger werdenden Zeitkontingent der Menschen füllen kann.

Der Economist gilt als klassisches Erklärmedium in einer komplizierten Welt. Ist ein solches Alleinstellungsmerkmal im Digitalzeitalter nicht ein Riesenvorteil gegenüber einer Positionierung als Nachrichtenmagazin – im Wesentlichen die DNA von Spiegel oder Focus?

Haydn: Ich glaube, es kommt auf die richtige Mischung an. Man muss immer abwägen, wie viel DNA unverzichtbar ist und inwieweit man sich vor dem Hintergrund äußerer Veränderungen selbst bewegen will und muss. Sicherlich wäre es unklug, die DNA komplett über Bord zu werfen. Der Spiegel bringt jede Woche sehr guten Journalismus, aufwendig recherchierte Artikel, die in die Tiefe gehen: daran sollte man nichts ändern, das wird sicherlich Bestand haben. Es geht mehr um die Frage, wie sich eine Publikation positionieren kann, um die zunehmend knappe Zeit der Leser zu gewinnen. Und welche Vorteile man seinen Lesern über die digiale Aufbereitung bieten kann.

In Deutschland gibt es eine breite Front von Verlegern, die den Einfluss der großen US-Internet-Konzerne auf die Medienwelt mit gesetzlichen Mitteln eindämmen wollen. Feindbild Nummer eins ist Google. Wie sehen Sie das?

Haydn: Google ist für uns einer unserer wichtigsten Marketingkanäle. Wir sehen Google als wichtigen Dienstleister, weil wir durch dessen Optimierungsmöglichkeiten unsere Leser viel einfacher und schneller erreichen können. Natürlich funktioniert das nur, weil wir eine Paywall eingerichtet haben, die verhindert, dass die Leser unsere Inhalte gratis konsumieren. Dennoch habe ich ein gewisses Verständnis für die Haltung der deutschen Verleger: Die aktuellen Zahlen im Print-Bereich können beängstigend sein, und jede Veränderung verlangt auch Mut. Es gehört nicht gerade zum menschlichen Instinkt, Veränderung zu lieben und als Chance zu begreifen. Und gerade die Medienlandschaft ist erfahrungsgemäß eine etwas konservative Branche, mit einer traditionellen Basis. In einem solchen Umfeld fällt es schwer, die Digitalisierung „zu umarmen“.

Ist das beim Economist mit seiner langen Tradition nicht auch so?

Haydn: Beim Economist geht es seit der Gründung darum, Veränderung aktiv zu suchen und sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen. Das gilt auch für die redaktionelle Linie. Der Economist ist schon vor vielen Jahren für die Legalisierung von Marihuana eingetreten, für die Gleichberechtigung von schwulen und lesbischen Lebensgemeinschaften. Aktuell plädieren wir für die breite Legalisierung von Prostitution, weil es inzwischen sehr gut funktionierende Apps gibt, die diese Branche strukturieren und dem Einfluss von Straftätern entziehen helfen. In dieser Weise haben wir immer schon Zeichen gesetzt, dass wir für Veränderung an und für sich waren und den Status quo ansehen als etwas, was uns aufhält. Für den Economist ist Fortschritt etwas, was zur DNA gehört, und deshalb sind wir bestrebt, die Digitalisierung der Welt nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern aktiv voranzutreiben und selbst Maßstäbe zu setzen.

Ist denn der von deutschen Verlegern geforderte Leistungsschutz mit Pflichtabgaben für Google für Sie ein Thema? 

Haydn: Wir sehen dafür keine Veranlassung. Google ist ein wichtiger Marketingkanal für uns, es kommt nur darauf an, die eigenen Angebote zuverlässig gegen eine dauerhaft kostenlose Nutzung abzusichern. Dieses Jahr hat The Economist Eric Schmidt in den Aufsichtsrat geholt, weil wir Technologie als Schlüsselfrage der Zukunft sehen und seine Perspektive auf unsere Strategie haben wollten. Für ein Medienunternehmen ist es heute absolut notwendig, sich mit den neuen Technologien auseinanderzusetzen, das ist die Zukunft. Natürlich kann man davon unabhängig fragen, ob Google zu groß oder zu mächtig ist, aber das ist eine andere Diskussion.

Was waren denn Ihre wichtigsten Lektionen, die Sie hinsichtlich Kundenbindung und Neukundengewinnung durch die digitalen Möglichkeiten gelernt haben? Wie hat die Digitalisierung den Economist verändert?

Haydn: Es ist ja Tatsache, dass das Print-Geschäft in Einzelhandel und Kioskverkauf vor allem infolge der Digitalisierung in der ganzen Branche rückläufig ist. Aber vor diesem Hintergrund ermöglicht es uns die Digitalisierung, weiter Leser zu gewinnen und die Verluste aus dem Print-Verkauf mehr als wettzumachen. Man kann sagen, dass die Digitalisierung alle Bereiche des Economist verändert hat, vor allem auch die Arbeitsweise der Redaktion. Heute bekommt ein Leser für sein Abo im Vergleich zu früher deutlich mehr Inhalte geboten, da er sie jetzt über das Magazin, die App oder ständig aktualisiert über die Website erhält. Und wir sehen, dass unsere Leser uns auch über alle Kanäle nutzen. Der Anteil der Leser, die komplett auf Print verzichten, liegt dabei vielleicht bei zehn oder zwölf Prozent. Die Abos sind nicht rückläufig.

Dennoch ist auch beim Economist der Rückgang der Heftverkäufe signifikant.

Haydn: Man muss das im Zusammenhang sehen. In Deutschland beispielsweise haben wir im alleine im ersten Halbjahr 2014 bei den digitalen Abos ein Plus von 36 Prozent erzielt, unser Gesamt-Abo-Wachstum liegt über die Jahre bei fünf Prozent. Über alle Neu-Abonnenten weltweit registrieren wir, dass ein Viertel von ihnen sich für die rein digitale Ausgabe entscheidet, also auf das Print-Produkt komplett verzichtet. Das heißt für uns, dass wir bei den Neukunden eine neue Art von Lesern erreichen: Early Adopters, die sich für gedruckte Magazine nicht mehr interessieren, wohl aber für den Economist. Zugleich verlieren wir im Einzelverkauf an den Kiosken jährlich im zweistelligen Bereich, zum Teil sogar mehr als der Gesamtmarkt. Wir sehen das nicht als Alarmsignal, sondern als Zeichen, dass in unserer Zielgruppe die digitale Anpassung deutlich schneller erfolgt als in der Gesamtbevölkerung.

Wird die digitale Ausgabe denn ebenso intensiv genutzt wie die gedruckte?

Haydn: Unsere wöchentliche Lesezeit ist hoch. Die Verweildauer, die wir bei der App-Nutzung messen, ist mit fast 90 Minuten sogar länger als für die Print-Ausgabe. Wir wissen nun, dass das digitale Lese-Ritual im Vergleich zu dem gedruckten Heft sogar intensiver ist.

Aber hinsichtlich der Anzeigenumsätze sind Digitalausgaben weit zurück?

Haydn: Man muss wissen, dass die digitale Ausgabe eine für die digitalen Kanäle optimierte Übernahme der gedruckten Ausgabe ist und vor allem für unsere Werbekunden neue technische Möglichkeiten bietet. Deshalb werden Anzeigenkunden die beiden Ausgaben auch getrennt angeboten. Wir haben es mit unterschiedlichen Vermarktungsmodellen zu tun. Im Digitalbereich sind wir dabei, innovative Formate rund um das Content-Marketing zu entwickeln. So ist es uns beispielsweise mit GE Solutions gelungen, für einen Kunden, der sich entschieden hat, überhaupt keine Printwerbung mehr zu schalten, ein neues digitales Angebot zu entwickeln.

Worum geht es dabei?

Haydn: Statt eine herkömmliche Print- und Online-kampagne zu führen, hat General Electric ein Thema vorgegeben, das dieses Unternehmen beispielhaft für die Innovationen im Bereich der Energieindustrie besetzen wollte. Der Economist hat dann die Inhalte redaktionell in einem Video aufbereitet, das auf unserer Website sehr hohes Interesse und entsprechende Klickzahlen erzeugt hat – vor allem dadurch, dass es sich um ein Thema handelt, das unabhängig von GE für die Zielgruppe spannend war. Für das Unternehmen war es eine neue Form, mit potenziellen Kunden in Kontakt zu kommen und das Markenimage zu verbessern.

Sehen Sie da nicht die Gefahr, dass die redaktionelle Unabhängigkeit durch solche Specials unterhöhlt werden könnte? 

Haydn: Überhaupt nicht. Dies sind keine redaktionellen Elemente der Print-Ausgabe, es wird auch auf der Website klar als Anzeige gekennzeichnet. Es sind Content-Solutions für Kunden, die unverwechselbar sind und von einem eigenen redaktionellen Team erstellt werden, mit strengen Qualitätskontrollen. Niemals würde ein Redakteur des Economist Beiträge für die Kunden-Specials produzieren.

Dafür haben Sie ein eigenes Corporate-Publishing-Team aufgebaut. Was ist die langfristige Strategie? 

Haydn: Wir haben in unserem Businessmodell eine Diversifizierung vorgenommen und konzentrieren uns auf kundenspezifische Content-Produktion einerseits und auf technologische Präsentationsformen solcher Inhalte andererseits. Deswegen haben wir mit TVC ein auf dieses Business spezialisiertes englisches Unternehmen mit Sitz in London und New York übernommen. Der Name sagt vielen vielleicht nichts, aber diese Agentur hat die Kampagne und die Onlinevermarktung für den weltweit beachteten Sprung von Felix Baumgartner aus der Stratosphäre strategisch geplant. TVC ist jetzt Teil der Economist Group und hilft unseren Kunden, ihre Inhalte in einer digital wegweisenden Art aufzubereiten, mit Lösungen, die es vorher nicht gegeben hat.

Welche Rolle spielen die Social-Media-Plattformen bei Ihren Marketingaktivitäten? 

Haydn: Neue Leser generieren wir in erster Linie durch unsere digitale Marketingstrategie. Wir haben ein Zwei-Säulen-Konzept, bei dem es um Brand-Marketing via Social Media geht und um den Ausbau unserer Follower-Zahlen. Diese Kanäle verwenden wir dann auch aktiv, um neue Abonnenten zu generieren, u.a. durch gezielte Werbung bei attraktiven Nutzergruppen zum richtigen Zeitpunkt und mit der richtigen Botschaft. Wir sehen auch attraktive neue Möglichkeiten durch Targeting oder Real-Time-Buying und auch durch kontextabhängige Werbung, mit der wir die User-Journey steuern und ein Engagement erreichen sowie später eine Kaufbotschaft platzieren können. Da haben sich die Möglichkeiten im Vergleich zu vor drei oder vier Jahren enorm entwickelt. Die Data-Tools sind von einem unschätzbaren Wert.

Sie meinen die Personalisierung der Werbebotschaften …

Haydn: Am Anfang war unsere Personalisierung lediglich zielgruppenspezifisch, jetzt sehen wir, dass es immer genauer möglich wird, die Ansprache auf einzelne Personen zuzuspitzen. Aber natürlich braucht dieser Prozess auch Zeit, bis die volle Effektivität solcher Methoden erreicht ist.

Haben Sie keine Bedenken im Hinblick auf den Datenschutz? 

Haydn: Beim Economist folgen wir strengen Datenschutzrichtlinien. Aber wir sehen auch die Vorteile der Data-Tools, und das gilt auch für unsere Zielgruppe, die weiß, dass Cookies nichts Schlimmes sein müssen, sondern helfen können, dass sie ein besseres Inhalte-Angebot bekommt. Dies gilt vor allem für die jungen, neuen Lesergruppen. Die sehen die Technologie als Chance und nicht als Bedrohung.

Machen Sie sich gar keine Sorgen um die Zukunft Ihrer Marke? 

Haydn: Ich bin absolut optimistisch, dass der Economist das Potenzial, hat auch in den nächsten 170 Jahren als Medium zu bestehen. Wir haben die Weichen für die Zukunft gestellt, und ich bin sicher, dass der Economist in der Leserschaft weiter wachsen wird.

Was raten Sie Verlagen, die weniger enthusiastisch hinsichtlich ihrer Medien sind? 

Haydn: Mehr Mut zur Innovation. Offen für Veränderung zu sein. Dinge auszuprobieren, auch wenn nicht alles sofort funktioniert. Und vor allem: nicht stehen zu bleiben.

Dieser Artikel ist zuerst in der Printausgabe der absatzwirtschaft 10-2014 erschienen.