Die Vermessung der (Friedhofs-)Welt

Das Prinzip „Matching“ gibt es nicht nur beim Online-Dating. Es kann auch die Suche nach bisher unbekannten Verwandten oder sogar nach verstorbenen Angehörigen erleichtern. Über eine makabre Form der Datensammlung.
Isabelle Ewald ist Senior Consultant Technology Strategy beim Handels- und Dienstleistungskonzern Otto Group und Co-Host des True-Crime-Podcasts „Mind the Tech“. (© privat (Montage: Olaf Heß))

Wenn mein E-Mail-Postfach eine Nachricht mit dem Betreff „Sie haben Record Matches!“ anzeigt, werde ich grundsätzlich hellhörig. Denn ich gehöre zu der oft belächelten Personengruppe, die ihre DNA bei einer Genealogie-Plattform registriert hat. Demnach stammen meine Vorfahren aus dem Balkan, Großbritannien und Westeuropa. Genetisch betrachtet bin ich also ziemlich durchschnittlich. 

Messages, die den eingangs genannten Betreff haben, verweisen in der Regel auf Verwandtschaft dritten bis fünften Grades, die ebenfalls in der Datenbank auftaucht. Nicht, dass ich jemals Kontakt zu jemandem aufgenommen hätte. Mich interessiert eher, in welchen Ecken der Erde Partikel meiner DNA zu finden sind.  Als würde man eine Weltreise machen, ohne sich auch nur ein Stück zu bewegen. 

“Matching” mit einem Grabstein 

Als kürzlich wieder eine entsprechende E-Mail einging, wurde ich aber nicht mit einer Person „gematcht“, sondern mit einem Grabstein. Ja, richtig gelesen: einem Grabstein! Und zwar nicht mit irgendeinem, sondern mit dem unseres Familiengrabs, in dem meine Großeltern und mein Vater bestattet sind. In solchen Momenten gefriert einem für einen kurzen Moment das Blut. Erster Gedanke: „Geht’s noch!?!“ 

Dann aber fiel mir wieder ein, dass ich vor Urzeiten mal damit begonnen hatte, einen Stammbaum in meinem Profil bei der oben genannten Genealogie-Plattform anzulegen. Und da KI-basierte Text-Bild-Erkennung inzwischen weit vorangeschritten ist, ist es aus algorithmischer Sicht kein Problem, die Verbindung herzustellen – sofern die Daten vorliegen. An dieser Stelle wird es makaber, denn: Es gibt eine Art Streetview für Grabstätten. 

Wer Daten mag, wird Friedhöfe lieben 

Was ich anfangs nur vermutet hatte, wurde über eine schnelle Google-Suche bestätigt: Tatsächlich gibt es Anbieter, die Menschen mit einer Kamera auf dem Kopf auf die Friedhöfe dieser Welt entsenden, um Fotos von Grabsteinen zu machen. Diese werden dann gesammelt, ausgelesen und mit bereits bestehenden Datensätzen abgeglichen.  

Wer Daten mag, wird Friedhöfe lieben. Denn davon gibt es allein in Deutschland 32.000 Stück mit einem „Gesamtvolumen“ von circa 32 Millionen Gräbern – und die sind längst nicht alle bildlich erfasst. 

Suche nach verschollenen Angehörigen erleichtert 

Der wesentliche USP dieses Dienstes liegt auf der Hand: Die Suche nach verschollenen Angehörigen kann nun vom Schreibtisch aus erledigt werden, Friedhofsverwaltungen werden entsprechend entlastet. Und doch hat das Ganze ein gewisses Geschmäckle: Kannte man das Prinzip „Matching“ bislang aus dem Online-Dating, wo quicklebendige Menschen zu romantischen Zwecken miteinander verkuppelt werden, rücken nun auch bereits Verstorbene in den Scope.  

Klar, das Anbahnen von Beziehungen ist hier nicht das Ziel (wäre auch irgendwie cringe). Aber wenn eine Technologie über Jahre auf genau dieses Prinzip hin geframed wurde, dann darf man sich nicht wundern, dass Nutzer*innen immer öfter irritiert sein werden, wenn sie eine Nachricht mit dem Betreff „Sie haben Record Matches!“ erhalten; diesen Dienst gegebenenfalls sogar aufkündigen. Menschen sind nunmal Gewohnheitstiere – bis dass der Tod sie von ihren Smartphones scheidet. 

Isabelle Ewald ist Senior Consultant Technology Strategy bei der Otto Group und Co-Host des Crime- und Gesellschaftspodcasts „Mind the Tech“, der zweiwöchentlich erscheint.