Die erhöhte Mehrwertsteuer – ein hilfreicher Schreck

Steuererhöhungen sind in der Regel schreckliche Nachrichten. Im jüngsten Fall tritt fast das Gegenteil ein: Zynisch könnte man die Erhöhung auf 19 Prozent als ziemlich gelungene Verkaufsförderungs-Aktion bezeichnen. Oder als Stimulans für Konsum. Just in time … sozusagen. Getragen von Klinsmanns Euphoriesignalen haben die Deutschen im Sommer 2006 im Überschwang eines positiven Gefühls plötzlich wieder zu kaufen angefangen.

Bis Herbst trug die gute Laune. Aber dann begannen die Medien, plötzlich wieder das Schreckgespenst der Mehrwertsteuer als Lesestoff aus der Kiste zu ziehen. Und alle erwarteten – und viele prognostizierten es sogar – eine Konjunkturdelle für das Jahr 2007. Der Tenor war: Kaum haben wir wieder Lust am Einkaufen, schon zerschmettert die böse Mehrwertsteuer das ganze Jahr 2007. Gut gebrüllt, Löwe. Aber eben falsch gebrüllt. Die Psychologie des Kaufens und Verkaufens ist eben eine andere.

Der Schrecken löste eine Fülle creativer Ideen und Einfälle aus. Creativ im Sinne attraktiver Offerten des Handels. Um es in eine merkfähige Schlagzeile zu bringen: Aus der Zitrone wurde eine Limonade gemacht! Aus der Bedrohung ein Angebot. Vor dem Hintergrund eines ziemlich brutalen Verdrängungs-Wettbewerbs, der die letzten Jahre beherrschte, dienten die unseligen zusätzlichen 3 Prozent plötzlich als Kaufanreiz. Die Marketing-Experten drehten den Spieß um: Aus dem Nachteil wurde ein Vorteil. Mit Offerten wie diesen „Die Mehrwertsteuer fällt aus“. Oder „Die Mehrwertsteuer-Erhöhung wird verschoben“. Oder „statt 3 % Erhöhung jetzt 19 Prozent Sonderrabatt“.

An die Stelle von Kaufverweigerung und Frust traten Zusatzkäufe und Mehr-Umsätze. Die zart aufkeimende Kauflust aus dem Sommer 2006 geriet in zwei Beschleunigungs-Phasen: Phase 1: Das Weihnachtsgeschäft war gekennzeichnet von einer Dramatisierung der Botschaft, die ‚nur’ 16 Prozent MWST noch schnell auszunutzen. Nicht nur die Automobil-Industrie meldete Rekordumsätze. Phase 2 : Der Jahresbeginn wurde nicht etwa – wie unheilvoll verkündigt – eine Konjunkturdelle sondern geriet zum grandiosen Auftakt unter dem Motto „Die Mehrwertsteuer findet nicht statt, wir helfen Ihnen, ihr zu entgehen“.

Die Sonderangebote überschlugen sich und der längst abgeschaffte Winterschlussverkauf wurde wieder erfunden. Nachlässe bis zu 70 Prozent sind nach Angaben des Branchenverbandes HDE keine Seltenheit. An die Stelle der Talfahrt trat im Januar die fröhliche „Wir sparen Steuer“-Jagd. Und man darf gespannt sein, wie creativ in den kommenden Monaten noch mit diesem Thema umgegangen wird.

Etwas keck könnte man sagen, die seherischen Fähigkeiten unserer Bundesregierung sind eben doch größer als gedacht. Und die Frage stellt sich, ob das Gespann Merkel/Steinbrück nicht doch zu den heimlich-genialen Wirtschaftsfachleuten gezählt werden muss, die die Seele der Konsumenten von vornherein richtig eingeschätzten.
Zurück zum seriösen Teil dieser Analyse und zu dem, was man daraus lernen kann:

In harten Verdrängungsmärkten, in denen es für einige Teilnehmer sogar ums Überleben geht, besteht einfach kein Freiraum, steigende Kosten an das Publikum weiterzugeben. Der Handel hat zum Teil schon im Vorfeld die zu erwartenden Zusatzkosten der Mehrwertsteuer im Laufe von 2006 in die Kalkulation eingerechnet. Manchmal auch in geschickten kleinen Schritten, um einen sanften Übergang beim Verbraucher zu schaffen.

Das in vielen Branchen herrschende Verwirrspiel in Sachen Preisgestaltung, das ja in den letzten Jahren geradezu zur Marketing-Methode wurde, war in dieser Situation natürlich besonders hilfreich. Wenn man heute Menschen fragt, was Produkte kosten, spreizen die Antworten weit mehr, als es in D-Mark Zeiten jemals der Fall war. Wir müssen uns nur an die ominöse 99 Pfennig Barriere für Schokolade erinnern, die jahrzehntelang gegolten hat. Selbst der Druck der Discounter auf den Markt hat noch nicht zu eindeutigen Preis-Vorstellungen und Preis-Grenzen geführt, die im Kopf der Verbraucher manifest verankert sind.

Jede Woche werden Preise neu inszeniert und dramatisiert. Darin liegt auch die große Chance für den Umgang mit der Mehrwertsteuer-Erhöhung. Gearbeitet wird nicht mit dem absoluten Preis, sondern mit der Ersparnis, dem Preisabschlag, dem Sonderrabatt. Wir kommen von einer Welt der absoluten Preisgestaltung zu einer Welt der relativen Preisgestaltung. Für das Marketing hat das Schlachtfeld gewechselt. Der Eindruck hoher Rabattierung ist wichtiger geworden als der absolute Preis. Das ist neu und wird unter Marketing-Fachleuten sicher heftige Diskussionen auslösen.

Nicht so neu, aber durch dieses Thema Mehrwertsteuer besonders sichtbar geworden, ist die Leadership in Sachen Vermarktung: Der Handel diktiert das Geschehen nahezu zu 100 Prozent. Und selbst Marken-Hersteller werden zu Reaktions-Strategien gezwungen, statt im Sinne der eigenen Strategie frei zu agieren.

Es bleibt festzustellen, dass die „Geiz-ist-geil“-Welle mühsam überwunden scheint und langsam in eine „Reiz-ist-geil“-Mentalität umschlägt. Hoffen wir, dass diese gesunde Entwicklung nicht durch den Zwischenspurt der Mehrwersteuer-Schlacht wieder in die alten Zustände zurück fällt. Unabhängig davon ist es schon bemerkenswert, wie es gelungen ist, mit dem Handicap der 3 Prozent höheren Steuer die Kaufstimmung wieder anzukurbeln. Manchmal heiligt wohl doch der Zweck die Mittel. Und offensives Markt-Verhalten zahlt sich aus.

Über den Autor: Bernd M. Michael ist Strategic Advisor bei Grey Global Group