„Die Digitalbranche hat versagt“ – ein Interview mit Guillaume de Roquemaurel

Der Hype des Jahres ist Künstliche Intelligenz (AI). Guillaume De Roquemaurel, Gründer eines AI-Unternehmens, findet diese Übertreibung kontraproduktiv. AI ist nichts anderes als bessere Software, aber was es im Unternehmen braucht, ist ein organisatorischer Wandel.
Guillaume de Roquemaurel

Guillaume de Roquemaurel arbeitete als Sales Manager auf Googles RealTime-Plattform AdEchxange als er erkannte, dass Künstlicher Intelligenz (AI) die Zukunft gehört, dass man sie aber nicht am Markt platzieren kann, ohne umfassend zu beraten. Auf Grundlage dieser Idee gründete er die Agentur Artefact, die letztes Jahr Teil der Netbooster Gruppe wurde. Inzwischen ist Guillaume Chief Operating Officer der gesamten Gruppe. Sein Blickwinkel auf AI hat sich aber nicht geändert.

Guillaume, mir kommt es derzeit so vor, als wäre das ganze Thema Künstliche Intelligenz komplett overhyped. Jeder spricht darüber und keiner weiß, was es wirklich ist.

Guillaume de Roquemaurel: Marketing ist natürlich immer Hype. Früher gab es Big Data, Data driven und jetzt ist es AI und es taucht schon ein neuer Begriff auf: cognitive Marketing. Aber die Grundlage ändert sich ja nicht. Marketing soll neue Kunden gewinnen oder loyale Bestandskunden dazu bringen, mehr Geld auszugeben. Es geht nicht um Künstliche Intelligenz an sich, sondern darum, diese Aufgaben besser zu erledigen.

Natürlich gibt es Dinge, die eher in der fernen Zukunft eine Rolle spielen werden, von Voice Search bis zu fliegenden Fahrzeugen, aber was passiert heute schon? Wie kann ich heute schon die neue Technologie für mich nutzen?

Was ist Ihre Definition von Künstlicher Intelligenz?

Wir haben eine sehr breite Definition. Marvin Minski hat gesagt, dass Künstliche Intelligenz dort sitzt, wo wir Menschen Aufgaben an Maschinen abgegeben haben, weil diese das besser machen. Das geht von einfachen Rechenaufgaben bis zu Berechnungen, die einschätzen, was der beste Kanal, die beste Uhrzeit oder auch der beste Inhalt einer Marketingbotschaft sein kann. Dinge, die üblicherweise heute von Menschen gemacht werden und auf deren Intuition basieren. 

Was kann AI heute für Marken tun?

Wir haben ein kleines Framework dafür entwickelt. Das beginnt bei stumpfen Standardaufgaben. Immer wenn man zwei Mal dasselbe macht, könnte man darüber nachdenken, das der Software zu übergeben. Da passiert noch sehr viel von Hand. Viel copy and paste.

Der zweite Bereich sind Schätzaufgaben. Was könnte am besten funktionieren? Bisher basiert das auf der Intuition des Marketingleiters. Das kann man mit AI auf mehr Daten gründen. Man denke nur an Social Listening. Ist es nicht spannend, die Eigenwahrnehmung des Marketing an den tatsächlichen Präferenzen der Kunden zu messen?

Und drittens geht es um die Grenzen der menschlichen Ressourcen. Denken Sie an die Personalisierung von Creatives. Man möchte gerne 1000 Varianten eines Creatives erzeugen. Die Nutzung von Automatisierung dafür sorgt für große Effizienzvorteile.

Kann Artificial Intelligence auch kreativer sein als die Marketer selbst?

Wir haben unseren eigenen Blick auf Data-driven Creativity. Sehr wichtig ist die Inspiration durch Daten, wenn man zum Beispiel lernt, was die Kunden in der Vergangenheit gut gefunden haben. Und natürlich produziert das Creative neue Daten. Und die sind entscheidend für die Optimierung der Creatives. Die Stufe dazwischen, also das tatsächliche Erzeugen der kreativen Elemente funktioniert noch nicht. Es gibt Experimente, zum Beispiel einen Film aus Filmfragmenten automatisch herstellen zu lassen, aber da kommt nur langweiliger Unsinn raus. Da sind wir noch nicht. 

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist AI eigentlich keineswegs revolutionär?

De Roquemaurel: Ganz ehrlich: Alle sprechen darüber, dass AI Arbeitsplätze vernichten wird. Wenn Sie mit einem Wissenschaftler sprechen, wird er sagen, dass das kommen kann, in 30 oder in 1000 Jahren, aber keiner weiß wann. Wir wollen Marketern heute helfen und nicht der nächsten Generation.

Eines Ihrer Tools ist ein visueller, interaktiver Kampagnenplaner, der die Intuition des Marketers kompetitiv gegen die AI antreten lässt. Besteht nicht die Gefahr, dass das Marketing von derartiger Software abhängig wird, weil man nicht mehr versteht, was warum funktioniert?

Das ist ein gravierendes Problem der gesamten Industrie und war letztlich der Grund, warum ich Artefact gegründet habe. Wir reden viel zu viel über Technologie und verstehen trotzdem nicht, wie die Algorithmen funktionieren. Wir wissen ja nicht mal wie Google arbeitet, wie Retargeting geht. Das ist eher ein organisatorisches als ein Problem mangelnden KnowHows. Der CMO muss heute darüber nachdenken, wie er intern Ressourcen aufbaut, die genau dieses Wissen ins Unternehmen übersetzen.

Sie als Software-Company können doch keine umfassende Change-Beratung leisten.

Doch. Wir haben einen großen Beraterstab. Das ist ja gerade wie im Goldrausch: Es gibt jeden Menge Hersteller von Schaufeln aber zu wenig Goldgräber. Wir nennen unseren Ansatz „Pizza-Team“. Wir holen aus allen relevanten Bereichen Personen an einen Tisch und zwar auf Kundenseite und bei uns. Das ist der einzige Weg, wie das funktionieren kann. 

Ist Ihr erster Ansprechpartner tatsächlich der CMO oder kommt die Verbindung eher auf der operativen Ebene zustande?

Wir setzen schon auf dem C-Level an, denn sonst funktioniert die Transformation nicht. Es ist ja auch eine Investition. Aber wir sind sehr pragmatisch. Wir sehen und als Problemlöser und nicht als Berater oder Entwickler. Wir nehmen uns ganz alltäglichen Themen direkt an, wie zum Beispiel wenn der CMO der Auffassung ist, er muss mehr Kunden gewinnen bei gleichem Budget. Wie geht man da ran? Welche Daten werden gesammelt und verarbeitet? Wir lieben diesen direkten Ansatz.

Viele Daten-Firmen beginnen mit Simulationen in Sandboxes. Ist das auch ihr Ansatz?

Ja und Nein. Es ist ein iterativer Prozess. Es muss immer wieder den Proof of Concept geben. Aber bei vielen Kunden sehe ich die Gefahr, dass es eine Dauertestschleife wird und nichts in den realen, den industriellen Betrieb übergeht. Das ist übrigens ein Problem der gesamten Digitalbranche. Sie versagt an vielen Stellen, wenn es um die Umsetzung in industrielle Prozesse geht. Schauen Sie, wie viel Geld nach wie vor in TV fließt, wie viele Unternehmen Adressen kaufen oder große Sponsorships machen, deren Wirkung ungewiss ist. Die Digitalbranche müsste das eigentlich besser können, hat hier aber bislang versagt.

Um das zusammenzufassen: Ist die Arbeit mit Artificial Intelligence eigentlich ganz einfach?

Nein, keineswegs. Das ist viel Arbeit und ein langer Weg. Entscheidend ist aber, dass einiges schon heute funktioniert und nicht erst in zehn Jahren.

Herr de Roquemaurel, vielen Dank für dieses Gespräch.