Deutsche Unternehmen vernachlässigen den chinesischen Massenmarkt

Ein Drittel des weltweiten Wirtschaftswachstums bis zum Jahr 2030 wird voraussichtlich auf ein einziges Land entfallen: China. Viele deutsche und Schweizer Unternehmen haben sich dort eine gute Ausgangsposition erarbeitet und melden steigende Umsätze. Die Mehrzahl von ihnen setzt dabei unverändert auf Premiumprodukte. Damit sind sie auch viele Jahre gut gefahren. Langfristig jedoch verzichten Unternehmen mit dieser Strategie darauf, in das erheblich wachstumsstärkere mittlere Marktsegment zu expandieren und erlauben es somit der chinesischen Konkurrenz, ihre Position in diesem attraktiven Segment ungehindert auszubauen. Die aktuelle Studie der Managementberatung Bain & Company „Die Quánsù-Strategie: China fordert Höchstgeschwindigkeit“ zeigt, wie westliche Unternehmen den chinesischen Massenmarkt mit einer „Gut-Genug-Strategie“ erobern können.

In einer Bain-Umfrage unter 800 Entscheidern erklärten 81 Prozent der Befragten, ihr Unternehmen habe seinen Umsatz im Reich der Mitte in den vergangenen fünf Jahren gesteigert. Doch bisher bearbeiten diese Firmen nur einen Bruchteil des chinesischen Marktes: 53 Prozent erklärten, dass ihr Unternehmen das Premiumsegment als besonders lukrativ erachtet. Lediglich 42 Prozent sahen größere Chancen im mittleren Marktsegment.

Das Premiumsegment ist in Ländern wie China das ideale Einfallstor für westliche Unternehmen: Dieses Segment ist gekennzeichnet durch hohe Qualitäts- und Serviceansprüche der Kunden. Chinesische Abnehmer waren lange Zeit bereit, Preisaufschläge von 70 bis 100 Prozent für die Qualitätsware aus dem Westen zu zahlen. Doch die wachsende Mittelschicht und die steigende Qualität lokaler Produkte verändern das Marktgefüge, erhöhen die Preissensibilität der Kunden und schaffen eine wachsende Nachfrage im mittleren Preisbereich – dem so genannten „Gut-Genug-Segment“. Kunden erwarten hier ein funktionierendes Produkt zu einem fairen Preis-Leistungsverhältnis – nicht mehr. Weitreichende Produktfeatures oder integrierte Serviceangebote wollen und können sich viele Käufer (noch) nicht leisten. Das Gut-Genug-Segment wächst mittlerweile in vielen Produktkategorien erheblich schneller als der Gesamtmarkt und umfasst mehr als 50 Prozent des chinesischen Marktes.

Bislang dominieren lokale Anbieter diesen wachstumsstarken Markt. „Vernachlässigen westliche Unternehmen das mittlere Marktsegment weiter, geben sie ihren chinesischen Wettbewerbern viel Raum, um Qualität und Service so zu verbessern, dass sie zu einer echten Konkurrenz heranwachsen – in China und im Rest der Welt“, warnt Michael Füllemann, Partner bei Bain & Company und China-Experte. Jedes Unternehmen müsse früher oder später die Entscheidung treffen, ob es in den entstehenden chinesischen Massenmarkt einsteigen will. Die Studie zeigt, dass die Entscheidung darüber erstens von der eigenen Wettbewerbsposition abhängt und zweitens von der Entwicklung im angestammten Premiumsegment. Je stärker die eigene Position und je geringer die Bedeutung des Premiummarktes, desto eher empfiehlt sich der Eintritt in das mittlere Segment.

Bei dieser Strategie müssen Einkauf, Produktion und Marketing weitgehend lokalisiert werden, damit westliche Unternehmen zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten und eine Differenzierung zwischen Premium- und Standardprodukten gewährleisten können. Der Aufzugshersteller Otis nutzt beispielsweise seit vielen Jahren eigenständige Marken für die unterschiedlichen Segmente: Während die Marke Otis mehrheitlich dem Premiumsegment vorbehalten ist, fahren günstigere Aufzüge im sozialen Wohnungsbau unter den Marken Xizi Otis und Express. Erfolg dieser Differenzierung: Otis steigerte seit dem Jahr 2003 seinen Marktanteil in China von 14 Prozent auf heute 25 Prozent.

Generell hängt der Erfolg einer solchen Strategie laut Bain von vier Faktoren ab: klar differenzierte Kundensegmentierung, um das bestehende Premiumgeschäft nicht zu gefährden; eigenständiges und innovatives Produktangebot, um gegen heimische Wettbewerber punkten zu können; leistungsfähiger Vertrieb, der das erheblich größere, geografisch weit verstreute Kundenpotenzial erreicht; und aggressives Kostenmanagement durch weitgehende Lokalisierung der Wertschöpfung. „Auf Dauer gibt es in vielen Produktkategorien keine Alternative zu dieser Expansion“, betont Füllemann. China entwickele sich schon aufgrund seiner Bevölkerungszahl nach und nach für viele Industrie- und Konsumgüterhersteller zum weltgrößten Markt. „Nur wer hier eine starke Stellung im Premium- und im Gut-Genug-Segment besitzt, kann im globalen Wettbewerb eine Führungsrolle beanspruchen.“

Bei der Expansion in den Gut-Genug-Markt stehen Unternehmen zwei Wege offen: Die Erweiterung des Leistungsspektrums aus eigener Kraft und die Akquisition passender lokaler Anbieter. Bislang halten sich europäische Unternehmen mit Firmenübernahmen im Reich der Mitte zurück: Während strategische M&A-Transaktionen in China von 2005 bis 2010 um 34 Prozent pro Jahr gestiegen sind, blieb der Wert für Übernahmen mit deutscher Beteiligung im gleichen Zeitraum auf unverändert niedrigem Niveau. Füllemann sagt über die Hintergründe: „Oftmals behindern regulatorische Auflagen Akquisitionen. Unabhängig davon scheuen viele Unternehmen auch aus organisatorischen und kulturellen Gründen Übernahmen in China.“ Viele Firmen beklagten darüber hinaus die fehlende Transparenz des chinesischen Marktes. Die Bedeutung dieser Faktoren schwinde indes, je stärker China ein integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie wird. In den kommenden Jahren erwartet der China-Experte daher eine wachsende Zahl von Übernahmen.

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