„Der Konsument ist viel komplexer“

Erich Joachimsthaler erklärt in seinem neuen Buch „Hidden in Plain Sight“ welche Kundenbedürfnisse in welchem Kontext entstehen. Die genaue Beobachtung von Menschen helfe, Innovations- wie Wachstumschancen zu erkennen.

von Christian Thunig

absatzwirtschaft: Sie stellen in Ihrem neuen DIG-Modell das Verhalten der Konsumenten als Untersuchungsgegenstand in den Mittelpunkt. Das ist in der qualitativen Marktforschung schon länger ein Thema. Was ist an Ihrem Konzept neu?

Erich Joachimsthaler: Das DIG-Modell löst das veraltete Paradigma der reinen Bedürfnisbefriedigung ab und geht weiter als die Marktforschung. Bei mir steht die Bestimmung relevanter Bedürfnisse der Konsumenten durch Verwendung ganz eigener qualitativer Marktforschungstechniken im Vordergrund. Unserer Überzeugung nach ist das tatsächliche Verhalten der Kunden dabei der beste Prädiktor für zukünftiges Verhalten – und nicht Einstellungen, Meinungen oder Markenimage.

absatzwirtschaft: Wenn Sie keine neue tiefenpsychologische Herangehensweise propagieren: Wie kommen Unternehmen bei Ihnen praktisch an die neuen Erkenntnisse?

Erich Joachimsthaler: Unser Prozess hat drei Phasen, und nur der erste Teil hat dabei Komponenten einer tiefenpsychologischen und ethnografischen Analyse. Phase eins heißt: Wir erstellen zunächst eine Landkarte des Kundenverhaltens, die recht komplex sein kann. Unternehmen meinen immer, dass sie vereinfachen müssten, damit der Kunde beispielsweise die Werbung versteht. Aber der Konsument ist viel komplexer, als man denkt. Der Konsument ist Ihr Freund oder Ihre Frau …

absatzwirtschaft: … und die ist kompliziert?

Erich Joachimsthaler: Das kommt darauf an. In einer Zeit, in der 95 Prozent der neu eingeführten Produkte nach einem Jahr wieder aus den Regalen geräumt werden, weil sie die Erwartungen der Konsumenten nicht treffen, müssen wir uns die Frage stellen, ob die traditionellen Ansätze noch funktionieren. Ich denke, wir haben mit unserem Konzept einen Nerv getroffen.

absatzwirtschaft: Aber wie kommen Sie jetzt genau zum Verhalten und den Bedürfnissen der Kunden?

Erich Joachimsthaler: Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Für den Nahrungsmittelkonzern Nestlé haben wir 30 Personen in Russland und 30 in den USA gebeten, rund um alle täglichen Aktivitäten, die mit dem Thema Lebensmittel zu tun haben, ein Tagebuch zu führen. Wer war beteiligt, wie lange hat es gedauert, wie viel Zeit und Geld haben Sie dafür investiert und so weiter. Die Befragten wussten nicht, dass Nestlé der Auftraggeber war. In diesem Zusammenhang gab es auch Interaktionen und Übungen, die die Konsumenten absolvieren mussten, wie Dinge zu fotografieren oder zu filmen, die ihnen wichtig sind. Am Ende hatten wir, da es am Tag rund zehn Gelegenheiten gibt, bei denen Lebensmittel eine Rolle spielen, rund 9000 Beobachtungen oder Datenpunkte, die mit einer Fülle zusätzlicher Informationen aus dem täglichen Leben der Menschen angereichert waren. Die Methode heißt: Day Re-construction Method.

absatzwirtschaft: Für die Marktforscher wäre das ein Horror, denn die Daten sind sehr unstrukturiert, da die Menschen recht unterschiedlich sind.

Erich Joachimsthaler: Genau das ist das Problem. Die Marktforschung befasst sich zu sehr mit den quantitativen Unterschieden in Einstellungsdaten anstatt mit den Ähnlichkeiten im Verhalten. Gerade wenn Unternehmen über die Ähnlichkeiten im täglichen Leben der Menschen die Strategie aufbauen würden, könnten sie sehen, wie groß das Potenzial ihrer Marken ist. Die Innovationskraft muss sich auf die Gemeinsamkeiten und die damit verbundenen Chancen fokussieren.

absatzwirtschaft: Ist denn die ganze Segmentierung, die Unternehmen machen, sinnlos?

Erich Joachimsthaler: Segmentierung beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen Konsumenten hinsichtlich Demografie, Psychologie oder Lebensstil. Im Prinzip erörtert man psychologische Unterschiede der Konsumenten und schneidet damit den Markt in kleine Stücke. Damit bedient man immer kleinere Märkte mit immer mehr austauschbaren Positionierungsstrategien und schwer zu unterscheidenden Kundenversprechen. Wenn Apple eine Segmentierung gemacht hätte, was wäre da wohl herausgekommen? Wahrscheinlich Dutzende verschiedene iPods – vom iPod für unterschiedliche Ansprüche an Musikqualität bis zu iPods für verschiedene Altersklassen – also Wachstum durch inkrementale Innovationen.

Professor Dr. Erich Joachimsthaler ist Gründer und CEO des Beratungsunternehmens Vivaldi Partners. Er lebt in New York. „Hidden in Plain Sight“ erscheint bei Harvard Business School Press, Boston 2007, 253 S., 24,95 Euro, ISBN 978-1-4221-0165-0.

Das ganze Interview lesen Sie in der Augustausgabe der absatzwirtschaft.