Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht

Schon Heinrich Heine dichtete damals: “Ich bitte dich, lass mich mit Deutschland in Frieden!”. Über seine Gründe lässt uns Heine im Unklaren und auch die Zeiten waren andere, aber eines ist klar: Dieser Mann hatte ein Identifikationsproblem. Heute, 170 Jahre später, gärt es mal wieder mit der Identifikation von uns Deutschen mit Deutschland.

Als Roman Herzog vor sechs Jahren den Ruck beschwor, der durch Deutschland gehen solle, haben alle genickt. Einige haben eine Kampagne daraus gemacht. Trotz zunehmenden „Ruckens“, gerade in jüngster Zeit, bleibt doch das Meiste ein Abrücken von Überkommenem oder ein Stühlerücken nach heftigem Schlagabtausch. Noch ist weitgehend unklar, in welche Richtung es rucken soll. Ist ein klares Ziel festzustellen? Etwas, worauf wir uns zubewegen? Erich Fromm hat mal gesagt: “Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man strebt, nach der man sich sehnt, die man verwirklichen möchte, dann gibt es auch kein Motiv sich anzustrengen.” Wo ist unsere Vision als Deutsche, wo steht dieses Land Ende des Jahrzehnts?

Der Kanzler hat zwar seinen Fahrplan bis 2010 verkündet, aber hat er auch ein Ziel benannt? Ein Ziel, für das es sich lohnt, lieber in die Hände zu spucken, als über Rentenprozente zu streiten? An dieser Vision, diesem Zielfoto setzen wir als Markenleute an. Wir haben uns diesem Deutschland aus der Perspektive der Markentechnik genähert und sind ohne Betroffenheitsattitüde zu interessanten Erkenntnissen gelangt. Wir* haben diese Annäherung an die Marke Deutschland öffentlich betrieben, mit vielen Beteiligten in Workshops und Veranstaltungen in Deutschland.

Die zentrale Erkenntnis und praktisch die Grundlage für den ganzen Prozess bis hierhin ist — angelehnt an den Herzog-Ruck — der Aufruf: Es muss ein Bild durch Deutschland gehen! Agenda 2010 oder früher — Fussballweltmeisterschaft 2006. Wie sieht Deutschland dann aus? Wie wollen wir als Deutsche wahrgenommen werden? Was soll die Welt als Bild mitnehmen? Dieses Bild müssen wir jetzt schon im Kopf haben. Jetzt muss es entstehen, dieses Bild von einem wandlungsfähigen, mutigen, entschiedenen und tatkräftigen Deutschland. Wir wollen gemeinsam mit unseren Initiativpartnern anregen, dass dieses Bild entsteht. Allerdings gibt es in dem Prozess — und das ist Teil einer realistischen Standortbestimmung — eine Reihe von Mitwirkern, die uns ihre Hilfe versagen.

Zunächst versagen uns die Worte ihre Hilfe. Wir haben in der Deutschen Sprache viele Worte und Begriffe verbrannt, die wir jetzt vielleicht gebrauchen könnten, um dieses Bild, das da durch Deutschland gehen soll, zu umschreiben. Neues Deutschland, Vorwärts, blühende Landschaften oder Volk, National, Fortschritt, Leitkultur – alles verbraucht oder sigmatisiert. Auch auf die Menschen ist kein Verlass, vielleicht weil wir Deutschen schlechte Erfahrung gemacht haben mit Führern. Wo ist die charismatische Person, die Inkarnation des neuen Deutschlandbildes, die vorangehen könnte? Wem würden wir uns anschließen, wir, die wir so kritisch und abwartend sind, denen ein Verriss schneller aus der Feder fließt als eine ehrliche Nachfrage, mit der wir uns gleich verdächtig machten? Auch die Stimmungen der Deutschen sind absolut volatil. Wir Deutschen sind als Kollektiv fast manisch depressiv — die Folge unserer Gründlichkeit in allem. Die eher depressive Tendenz mag Folge dessen sein, dass in der Geschichte unsere Begeisterungsfähigkeit mehrfach missbraucht wurde.

Und zu guter Letzt versagen die Symbole, mit denen wir schlechte Erfahrungen in Hülle und Fülle gemacht haben. Flagge, Adler, Eichenlaub. Von Kreuzen und anderen Symbolen ganz zu schweigen. In Dänemark weht vor fast jedem Landhaus der rotweiße Wimpel. Weil dies alles versagt, ist es nicht leicht, uns Deutsche in Bewegung zu setzen und auf eine einheitliche Vision, ein prägnantes Bild zu fokussieren. Aus der Markentechnik wissen wir, dass das Bild im Kopf entstehen muss, im Kopf eines jeden Deutschen. Demnach sind es 80 Millionen Bilder, wenn man allein die Deutschen nimmt. Das wichtigste bei dem Bild, das durch Deutschland gehen soll, ist nicht seine ein-eindeutige Kontur und Schärfe. Das Wichtigste ist die Identifikation des Einzelnen mit einem solchen Bild. Ein Deutschland ‚an sich‘ gibt es nicht. Ein verändertes Deutschland wird nur dadurch erlebt, dass ein neues Bild durch Deutschland geht, mit dem sich mehr und mehr Deutsche identifizieren, ihre Einstellung, ihre Entscheidungen, ihr Handeln daran ausrichten.

Nun erlebt der Begriff ‚Marke Deutschland‘ leider eine gewisse Inflationierung. Ich glaube, dass bei all der Fülle von schönen und unsäglichen Logos in diesem Land eine neues Deutschland-Logo nichts bewegt. Dennoch könnte es wohl wieder die Kraft visueller Elemente sein, die eine Brücke zwischen dem Bild und der Identifikation baut. Wie kann ein Mensch oder ein Unternehmen, eine Region oder Institution signalisieren, dass das Bild, die Vision von einem gewandelten Deutschland heute schon das Denken und Handeln bestimmt. Eine Symbolik, eine Art Allianzmarke könnte die Brücke sein. Ein Symbolsystem, dass vielfältig und doch wiedererkennbar einheitlich ist, das sich einpasst in wechselnde kommunikative Zusammenhänge und das dem, der es nutzt, immer den Vortritt lässt. Zuerst lebt die Allianzmarke von der Loyalität seiner Nutzer, bald aber entwickelt sie genau darüber eine eigene Kraft, von der jeder weitere Nutzer profitiert — und gleichzeitig alle bisherigen Nutzer. Ein sich selbst befruchtendes System, ebenso ein sich selbst korrigierendes.

Ein solches Symbolsystem, von mehr und mehr Repräsentanten genutzt, ist nicht das Bild, das durch Deutschland gehen soll. Aber es signalisiert, wo und wie das Bild mit Erlebnissen und Inhalt gefüllt wird. Es ist ein Identifikationsanker, für alle, die sich in Bewegung gesetzt haben. Es ist nicht die kollektive Bewegung, aber es signalisiert die individuelle Bewegung. Und wenn immer mehr sich in Bewegung setzen lassen, weil sie sich selbst in dieses neue Bild von Deutschland hineinmalen, verändert sich Deutschland. Ein heerer Wunsch für dieses Land, aber beständige Erfahrung aus vielfältigen Markenentwicklungsprozessen.

* eine Initiative von Wolff Olins zusammen mit Accenture und ECC Kothes Klewes


Autor: Henning Rabe, Wolff Olins

eingestellt am 24. November 2003


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>Müssen die Marken in Zukunft ihre Herkunft verleugnen ?

>Die Wertigkeit der Marke Deutschland nimmt ab