„Big Data? Bei uns sprechen wir lieber von Smart Data“

Zettabyte an Daten werden täglich produziert. Sehr viel davon ist auch für Marketer interessant, aber schwer zu isolieren und noch schwerer zu handhaben. Vor allem, weil die Daten eben längst nicht mehr nur aus der Marktforschung stammen. Denn dank sozialer Medien beteiligen sich immer mehr Verbraucher inzwischen selbst massenhaft an der Datenproduktion. Big Data ist daher das Zauberwort, das auch im Marketing Erkenntnisgewinn verspricht. Allerdings nur, wenn man es richtig macht. Wir sprachen mit den Marktforschern Martin Hellich, Director Ipsos Loyalty, und Janet van Rossem, Director Ipsos UU. Sie verraten unter anderem, warum Big Data eigentlich Smart Data heißen muss. Und warum darauf basierende Tools dann sogar fähig sind, einem buchstäblich die Schuhe auszuziehen.

Big Data meint doch eigentlich nichts anderes als Data Mining, das schon zur Jahrtausendwende en vogue war. Was macht Big Data so besonders?

Martin Hellich: Ich denke, dass vor allem der Begriff einen unheimlichen Hype erzeugt hat, weil er so umfassend ist. Jede Branche findet sich darin wieder und verwendet ihn gerne als Trittbrett für den Einstieg in eine themenspezifische Diskussion. Auch für altbekannte Themen wie Data Mining. Aber es geht durchaus auch darum, den alten Wein in den neuen Schläuchen zu verfeinern.

Janet van Rossem: Big Data ist nun schon ein Buzzword geworden, unter dem alle etwas Anderes und womöglich viele Unterschiedliches verstehen. Für uns gibt es neben den drei V – Variety, Velocity und Volume, also Datenvielfalt, Datenverarbeitungsgeschwindigkeit und Datenmenge – noch ein viertes V. Es steht für Value, also den Mehrwert, den diese Daten liefern. Wenn man sie richtig nutzt. Wir von Ipsos sprechen angesichts des Wertes von Daten für das Marketing daher auch lieber von Smart Data.

Bisher tauchen bei Big Data vor allem Technologie-Player wie IBM oder SAP auf, die mit ihrem Datenbank-Knowhow punkten. Wo ist hier der Platz für Marktforscher?

Martin Hellich: Wir sind Anwender von Technologien, um Big Data zu speichern und zu generieren, etwa Feedbacks bei fallzahlintensiven Befragungen. Aber wir sammeln verfügbare Daten auch aus anderen Quellen ein, zum Beispiel mittels Social Listening aus den sozialen Medien beziehungsweise im Internet. Wenn es dann um die Analyse der Daten geht, müssen wir zum Teil neue Methoden anwenden, die unter anderem auch von uns selbst programmiert werden. Sie müssen sich vorstellen, früher hat man es bei uns meistens mit 1000-er oder vielleicht mal 10.000-er Stichproben zu tun. Unsere Rechner haben dann nach vertretbarer Zeit Ergebnisse ausgespuckt. Mit wirklich großen Datenmengen ist das nicht mehr ohne weiteres möglich. Da braucht es neue Prozeduren und Algorithmen, die Rechenzeiten auf ein tolerierbares Maß reduzieren.

Technik allein bedeutet ja noch nicht, dass am Ende etwas Kunden- oder Verbraucherfreundliches dabei herauskommt.

Martin Hellich: In der Tat, „big“ allein ist noch nicht „gut“. Hier sehen wir im Wesentlichen unsere Aufgabe als Forschungsinstitut, Einsichten zu generieren, die den Verbrauchern helfen und damit auch die Unternehmen dazu befähigen, am Markt erfolgreich zu sein. Mit Hilfe großer Datenmengen lassen sich neue und andere Einsichten generieren, aber für Ipsos bleibt unsere Analyseleistung nach wie vor relevant. Nur so schaffen wir es, Big Data auch „Value“, also Wert zu verschaffen und es so zu Smart Data zu machen.

Janet van Rossem: Hier zeichnet sich auch die Herausforderung ab, die für das Berufsbild der Marktforscher im Zeichen von Smart Data relevant ist. Wir haben jetzt sehr viele Spezialisten, aber wir brauchen vielleicht auch noch mehr Generalisten bei der Flut verschiedenster Informationen, die zu verarbeiten sind. Nicht nur aus einer Studie und einer Quelle, sondern aus vielen. Smart Data heißt ja, unter dem Eindruck dieser vielen Quellen Strukturen erkennen zu können. Daher überlegen wir jetzt schon: Wie sieht der Marktforscher 2015 aus?

One-to-One-Marketing, also Tante Emma im Massenmarkt, ist seit Don Peppers Buch 1999 Traum der Marketer. Kommen wir dem jetzt näher? Wie helfen Sie dabei?

Martin Hellich: Da sind wir schnell beim Thema EFM, Enterprise Feedback Management (siehe auch Artikel im Special). Das verdient das Prädikat Big Data. Die neuen Technologien erlauben es, ökonomisch sinnvoll nicht nur viel mehr Feedbacks an den Kunden-Touchpoints einzusammeln, sondern auch laufende Vorgänge unter die Lupe zu nehmen und als Unternehmen sofort darauf zu reagieren. Etwa, wenn unmittelbar nach Auslieferung einer Ware ein negatives Feedback eingeht, sofort das jeweilige Kundenproblem zu lösen beginnen und so positives Markenerlebnis zu erzeugen. Das sind konkrete Anwendungsbereiche, wie wir sie schon jetzt für unsere Kunden betreiben.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Martin Hellich: Wir arbeiten für einen Telekommunikationsanbieter, der bei Feedback-Befragungen erst mit großen Fallzahlen spezifische Verbesserungen im Service erreichen konnte. Die Unmenge an Daten – teilweise aus offenen Fragen – werteten wir mittels vollautomatischer Textanalyse-Software aus. Wie sich herausstellte, kam bei den offenen Antworten unter anderem immer wieder vor, dass sich die Kunden ärgerten, weil die Techniker ihre Häuser mit schmutzigen Schuhen betreten. Danach wurden die Mitarbeiter gebeten, die Kunden vorher zu fragen, ob sie die Schuhe ausziehen sollen. Das wirkte. Hier konnte erst die Analyse großer Datenmengen wichtige Details erkennen lassen – so wurde aus Big Data Smart Data.

Wir haben jetzt viel von quantitativer Forschung und neuen Ansätzen gesprochen. Wie sieht es bei der qualitativen aus?

Janet van Rossem: Qualitative Forscher gehen nicht mit großen Fallzahlen, aber doch mit sehr vielen Daten um. Allein dadurch, dass wir die Datenerhebung bunt gestalten und zum Beispiel zusätzlich mit mobilen Apps arbeiten, den Konsumenten direkt am Point of Sale oder beim Umgang mit dem Produkt abholen, dies mit Gruppendiskussionen, Ethnographie und außerdem noch mit Inhalten aus Social Listening verknüpfen, sorgen wir schon dafür, dass eine Menge unterschiedlichster Daten zusammenkommen, die wir zur Analyse nutzen. Hat man Erkenntnisse gewonnen, muss man mit diesem Wissen auch etwas anfangen können und hier setzen wir natürlich auch eine technische Lösung ein – wir nennen es „Insight Cloud“. Mit ihr können Kunden ihr gesamtes Marken- und Konsumentenwissen managen, um zum Beispiel weitere Inputs zu genieren. In die Insight Cloud stellen wir qualitative Ergebnisse, die quantifiziert sein können, aber nicht müssen. Dort werden sie mit anderen Inputs wie Megatrends verknüpft und bilden so eine umfassende Basis für weitere Analysen. Schließlich muss dann auch entschieden werden können, was fängt man mit den Findings an?

Ipsos kann also dabei helfen, jedem Verbraucher genau das zu geben, was exakt zu ihm passt. Was aber, wenn die Menschen sich auch überraschen lassen wollen? Killt also Big Data das Einkaufserlebnis?

Martin Hellich: Die meisten Messsysteme sind retrospektiv ausgerichtet, erzeugen also Daten über bisheriges Verhalten. Wenn Sie zum Beispiel ein Mathebuch für die erste Klasse kaufen, kann es passieren, dass sie immer wieder Bücher für die erste Klasse angeboten bekommen. Schlaue Systeme würden dann zumindest nach einem Jahr eins für die zweite Klasse und im übernächsten eins für Klasse 3 anbieten. Das „What“ abzulesen aus Big Data ist nicht das Problem, selbst beim Social Listening nicht. Schwieriger ist das „Why“, die Motivlage, und erst recht schwierig ist es, in die Zukunft zu blicken. Das Prognostische ist noch eine große Herausforderung. Da arbeiten wir gerade dran. Viele Modelle nutzen Korrelationen, etwa im Buchhandel. Interessanter aber ist die Frage nach den Kausalitäten. Da kommen wir als Marktforscher wieder ins Spiel, indem wir Modelle verbessern und Big Data entsprechend sinnvoll anreichern, sodass sich Zukunftsaussagen verlässlicher treffen lassen und Handlungen im Marketing und Vertrieb darauf entsprechend abgestimmt werden können. Den heiligen Gral haben wir zwar noch nicht entdeckt, aber in einigen Projekten bereits große Fortschritte erzielt. Bei einem Mobilitätsdienstleister ist es uns beispielsweise schon gelungen, ein Modell zu entwickeln, mit dem sich vorhersagen lässt, welche Veränderungen im Leistungsspektrum welche Umsatzveränderungen nach sich ziehen.

Janet van Rossem: Was wir mit Smart Data realisieren können, wenn die Probanden einverstanden sind, zeigt ein Beispiel aus Benelux, bei dem Ipsos für einen Autohersteller tätig ist. Teil einer ständig laufenden großen Kundenbefragung sind auch offene Fragen nach der Einschätzung des gefahrenen Autos. Stellt das Analysetool eine besonders positive Antwort fest, wird das automatisch auf die Internetseite eingespeist. Das wäre sogar in Realtime möglich, aber hier schaut vor der Veröffentlichung noch jemand drauf. Das ist nicht mehr nur Marktforschung, sondern schon Marketing.

Datenschutz wird vermehrt zum Thema. Wie geht Ipsos damit um?

Martin Hellich: Zweifelsfrei ist im gesetzlichen Rahmen zu agieren. Es gibt klare Regeln, wie mit personalisierten Daten umgegangen werden muss, und das machen wir auch so. Wir beobachten allerdings auch, dass die Mehrheit der Befragten kein Problem damit hat, dass Erhebungsdaten mit ihren persönlichen Daten verknüpft sind, die Zustimmung reicht dabei je nach Projekt von 70 bis 95 Prozent. Trotzdem bleibt Datenschutz ein sensibles Thema. Wie in einem Fall in Großbritannien. Unsere dortigen Kollegen haben für einen Telekommunikationsdienstleister millionenfach personalisierte Bewegungsdaten ausgewertet – alles natürlich in streng legalem Rahmen. Der PR-Schaden entstand, als es eine vermeintliche Anfrage der Polizei bei Ipsos UK gab, ob man diese Daten nicht zur Verbrechensbekämpfung nutzen könne. Das war dann zwar keine Polizeianfrage und es gingen erst recht keine Daten raus. Aber das hat uns in Großbritannien schon Schwierigkeiten gemacht. Ich glaube aber insgesamt, dass Finanzdienstleister oder TK-Unternehmen und erst recht die großen Internetkonzerne stärker betroffen sind als die Marktforschung. Wir leben im Geschäftsfeld der Big-Data-Analysen ja in erster Linie von der Analyseleistung, nicht der Erhebung. Und da ist ohnehin Datenschutzsensibilität das A und O. Oft finden deswegen Analysen in sogenannten Data Rooms statt: Wir müssen dann zu den Daten hin und in diesen Rooms sind keine Aufzeichnungsgeräte, Handys oder eigene Laptops gestattet.