Best Practice: Wenn der DPD-Paketmann nicht mehr klingelt

Wenn der Marktführer im Segment der B-to-B-Paketzustellung auch den Endkunden ins Visier nimmt, geht das nicht ohne einen umfangreichen Change-Prozess im gesamten Unternehmen. DPD-Chef Boris Winkelmann hat dies durchexerziert und wartet nun mit Spannung darauf, wie der Markt seine Bemühungen honoriert

Die Branche der Transportdienste erlebt derzeit eine turbulente Phase. E-Commerce ist Wasser auf die Mühlen der Paketlieferanten: Je mehr die Kunden bei Amazon bestellen und je weniger sie sich selbst in die Innenstädte bewegen, umso besser. Gleichzeitig leidet die Branche unter einem enormen Konkurrenzdruck. „Deutschland ist der größte und damit auch attraktivste Markt in Europa“, sagt DPD-Geschäftsführer Boris Winkelmann im Gespräch mit absatzwirtschaft. In Deutschland sind alle großen Carrier wie DHL, Hermes, TNT, UPS, GLS und eben auch DPD präsent. Und viele von ihnen hängen an den riesigen nationalen Postdiensten.

Obwohl die Branche insgesamt floriert, muss sie in der Außenwirkung einen Nackenschlag nach dem anderen verkraften. Soeben hat es erneut DPD erwischt. In der Schweiz wirft man Fahrern vor, Unterschriften von Paketempfängern gefälscht zu haben, und einige der Pakete sind offenbar verschwunden. „Solche Dinge dürfen eigentlich nicht passieren; wir haben viel unternommen, damit sie nicht passieren“, sagt Winkelmann. Und natürlich ist DPD nicht allein. „Mangelnde Termintreue“ lautet einer der geringeren Vorwürfe. Pakete werden gelegentlich in öffentlichen Fluren abgestellt oder der Bote hält die vorausgefüllte Benachrichtigungskarte schon in der Hand und klingelt erst gar nicht. Die Beschwerden betreffen alle Lieferdienste mit fast berechenbarer Regelmäßigkeit. Ein DHL-Fahrer wurde soeben ebenfalls wegen Päckchenunterschlagung von einem Berliner Gericht verurteilt und ein Hermes-Fahrer verlor seinen Job wegen rassistischer Kommentare auf Facebook.

Die Ausgangssituation: Zeit für den Wandel

So oder so ähnlich ambivalent zeigte sich vor zweieinhalb Jahren das Bild der Zustelldienste im Allgemeinen und von DPD im Speziellen. Das war der Zeitpunkt, als Boris Winkelmann in die deutsche Geschäftsleitung rückte – zunächst als COO und im Februar 2014 als Geschäftsführer. Winkelmann hatte DPD 13 Jahre zuvor bereits kennengelernt, als er maßgeblich daran beteiligt war, dass GeoPost, eine 100-prozentige Tochter der französischen La Poste, zum Mehrheitsgesellschafter bei DPD avancierte.

Anfang 2013 war auch der Zeitpunkt, an dem DPD beschloss: Es muss sich etwas ändern. Der Schwerpunkt des Geschäfts bestand im B-to-B-Paketversand. Das war auskömmlich, barg aber kaum noch Wachstumschancen. „Angesichts der Marktentwicklung sehen wir alle, dass B-to-B zu einem Teil durch B-to-C substituiert wird“, ergänzt Winkelmann und meint damit vor allem den steigenden Direktvertrieb der großen Marken.

So lag es nahe, nach einer Möglichkeit zu suchen, vom boomenden B-to-C-Liefergeschäft zu profitieren. Doch dort winken nicht gerade üppige Margen. „Deutschland ist in Europa der Markt mit den niedrigsten Preisen. Da es der größte Markt ist, spielen hier oft Marktanteile eine größere Rolle als wirtschaftliche Aspekte“, sagt der DPD-Geschäftsführer.

Eine Me-too-Strategie war somit von Anfang an ausgeschlossen. Die nötigen Investitionen, die zum Beispiel für den Aufbau der bis dahin nicht geleisteten Samstagszustellung nötig wären, würden sich im Wettbewerb mit Platzhirschen wie DHL nur schwer wieder einspielen lassen. „Wir mussten ein Marktsegment besetzen, das noch nicht bespielt wurde, und uns exklusiver positionieren“, erläutert Winkelmann.

Die Aufgabe: Der Kunde im Mittelpunkt

DPD startete Befragungen, um den größten Kummer der Endkunden in Bezug auf Logistik und Lieferung herauszufinden. Mit folgendem wenig überraschenden Ergebnis: Mangelnde Transparenz im Lieferprozess wurde als größte Schwäche der Anbieter beschrieben. Als Kunde hoffe man auf den Zufallstreffer, denn man wisse kaum, wo das Päckchen gerade sei, sagten die Befragten. Dadurch seien sie nicht flexibel, andere Termine und Aktivitäten um eine Paketzustellung herum zu planen. „Sämtliche Studien sagen, dass Same-Day nicht so wichtig ist wie ein verlässliches Zeitfenster“, bestätigt der E-Commerce-Experte Professor Gerrit Heinemann von der Fachhochschule Niederrhein.

„Damit war die Aufgabe klar“, sagt Winkelmann, „wir mussten vor allem die letzte Meile digitalisieren.“ Am Anfang stand die Aufgabe, das GPS-Tracking der Zustellfahrzeuge mit GPS-fähigen Scannern zu gewährleisten, um die Position der Pakete möglichst exakt bestimmen zu können. „Doch die exakte Beobachtung eines Pakets war für DPD nicht genug“, ergänzt Winkelmann. „Wir wollten, dass der Kunde auch mit uns kommunizieren und Einfluss auf den Paketlauf nehmen kann.“Tatsächlich beherrschen die digitalen Services, allen voran die DPD-App, die bidirektionale Kommunikation. Außer dass sie diverse Auskunftssysteme wie etwa die Karte, auf der das Lieferfahrzeug live verfolgt werden kann, oder Push-Nachrichten bietet, nimmt sie auch Änderungswünsche entgegen. Der Kunde kann den Fahrer um einen anderen Zustelltermin bitten, er kann ihm die Erlaubnis erteilen, das Paket vor der Tür abzustellen oder einem Nachbarn zu übergeben, oder er kann einen der 6 000 Paketshops zur Abholung definieren.

Vermutlich steht die Digitalisierung der letzten Meile für alle Logistiker auf der Agenda. Eine vergleichbare Darstellung der Lieferkette inklusive einer Prognose des Zustelltermins bis auf eine halbe Stunde genau sowie die Möglichkeit zur Terminveränderung bieten die Wettbewerber von DPD derzeit jedoch nicht. Bei genauer Betrachtung ist es tatsächlich ein zweischneidiges Schwert. Denn: Die dargestellte Transparenz verändert auch die Erwartungshaltung der Kunden und baut somit Druck auf. Funktioniert der Ansatz auf Dauer nicht, wäre das vermutlich ein großer Imageverlust für DPD.

Die Hürden: Technische und menschliche Herausforderungen

Heute erinnert die DPD-App stark an die Funktionalitäten, die von Mytaxi oder von Uber her bekannt sind. Boris Winkelmann glaubt fest daran, dass auch die Wettbewerber von DPD daran arbeiten, hat aber am eigenen Leib erfahren, dass es eine Reihe von Herausforderungen zu stemmen gilt, die umfassendes Change-Management erfordern. Das gelingt nicht im Vorbeigehen.

Es beginnt bei der technischen Aufrüstung. Zu den trackbaren Handscannern gehört eine Software, die die Masse an Daten verarbeiten kann. „Wir tracken 8 000 bis 9 000 Touren parallel und pushen die Status-Updates im Minutenrhythmus auf den Server“, erklärt de Malvinsky die Komplexität der dynamischen Echtzeitberechnungen. Boris de Malvinsky kommt von Mistresstech und hat das Projekt als Strategie- und Umsetzungspartner begleitet.  Ein Flaschenhals war die Onlineanbindung der Depots. Alle 76 Standorte mussten zugunsten eines ausreichenden Datendurchsatzes auf Glasfaser umgestellt werden. Denn außer Statusmeldungen gehen auch Auftragsdaten und vor allem die Kommunikation durch die Leitungen.

Das nächste Problem lauerte in der Qualität der Routenplanungssoftware. „Mit Daten funktioniert das nicht gut genug“, erläutert Winkelmann. Tatsächlich ändert der Fahrer immer wieder seine Route und natürlich sind Verkehrsaufkommen, Baustellen und andere Sonderereignisse schwer aus Daten abzuleiten. Daher fließen Live-Verkehrsdaten in das Vorhersagesystem ein und die Fahrer können Tourendaten zurückspielen, etwa wenn ein Empfänger im Hinterhof wohnt und die Zustellung dadurch etwas länger dauert. „Wenn ein Termin nicht gehalten werden kann, hat der Fahrer die Möglichkeit, das über seine App vorzumerken, dann wird eventuell eine Zustellung übersprungen, damit er wieder im Zeitplan ist“, erläutert de Malvinsky. Einen Kunden zu vertrösten hält DPD für weniger gravierend als eine Kette von Zeitfehlern. Um aus den Problemen die richtigen Schlüsse zu ziehen, wird mit dem Fahrer ein sogenanntes Check-out-Gespräch geführt, sobald dieser von seiner Tour zurückgekehrt ist.

Das Learning: Ein Füllhorn an Optionen

Für den Geschäftsführer von DPD ist der erreichte Status quo erst der Beginn des Wandels. Dieser werde sich in weiteren Schritten fortsetzen, von denen der erste bereits feststeht: Die Kunden sollten die Möglichkeit haben, innerhalb der App ein Kundenkonto mit Präferenzen zu pflegen, und diese Optionen sollen weiter ausgebaut werden. Es kann dann etwa der bevorzugte Nachbar für die Zustellung oder die Erlaubnis zum Abstellen des Pakets notiert werden. Schon ab Ende November 2015 wird es möglich sein, den Service von DPD zu bewerten und den Zustellern ein Trinkgeld zukommen zu lassen.

Auch für die Versender bieten die App und die Navigator-Infrastruktur eine Reihe erweiterter Möglichkeiten. Bereits fertig entwickelt sind die Schnittstellen, über die sich das Tracking in die Websites des jeweiligen Händlers integrieren lässt. „DPD verlängert den E-Commerce-Check-out bis zur Haustür“, sagt Boris de Malvinsky. Außerdem lässt sich das Tracking mit eigenen Designs branden. Ein Vorzeigekunde, der dies bereits macht, ist Asos.

Noch spannender aber könnte sein, dass die App einen kleinen Gamification-Ansatz enthält. Der User kann tatsächlich die Stationen, die noch bis zur eigenen Haustür zu absolvieren sind, in einem Count-down nachvollziehen. „Das führt zu einer gigantischen Viewtime von durchschnittlich 14 Minuten pro Tracking“, erklärt de Malvinsky das hohe Engagement der App-User. Boris Winkelmann ergänzt: „Was spricht dagegen, den Unternehmen auf diesem Weg auch Airtime anzubieten und das zu vermarkten?“ Nicht auf Banner-Ebene, aber vielleicht für größere Sponsoringpakete oder für die Merchants selbst. „Bisher waren immer die Logistiker unsere Ansprechpartner. Jetzt versuchen wir immer mehr, Marketing und Business-Development einzubinden“, erläutert Winkelmann die Positionierungsveränderung.

Die Händler kostet dieser bislang einzigartige Service bis zu 30 Prozent mehr im Vergleich zum Standardpaket. „Wir suchen nach Kunden, denen die Customer-Experience bis zur Haustür wichtig ist“, betont Winkelmann. Er positioniert sein Unternehmen bewusst im höheren Segment, wohl wissend, dass darunter nicht mehr viel Platz ist. Immerhin: Jedes dritte DPD-Paket geht schon an Privatkonsumenten – auch dank des Onboardings von Amazon. Wie lange sich das Unternehmen in Aschaffenburg über den Pioniervorsprung freuen darf, wird spannend zu beobachten sein.