Berufliche Auszeit: Was wäre, wenn?

Jeder zweite deutsche Arbeitnehmer träumt von einer Auszeit, doch Geldmangel und die Angst vorm Jobverlust halten viele davon ab. Marketingmanagerin Susanne Tölzel weiß: Die Zeit für eigene Projekte ist wertvoller als jede Sicherheit – und sorgt im besten Fall auch für berufliche Neuanfänge.
Ließ ziemlich viel zurück, um die Welt zu entdecken – und bereut nichts. Susanne Tölzel, hier auf ihrem Boot vor den Kanaren (© Susanne Tölzel)

1000 Euro im Monat für ein endloses Kontingent an Erinnerungen

Im Internet kann man sich davon überzeugen. Reiseblogs jeder Art erzählen von Familien, die samt Kindern und Haustier im Bully um die Welt fahren, von Solo-Weltenbummlern, die sich ausschließlich per Anhalter fortbewegen und kostenfrei auf den Sofas der Welt schlafen, und Menschen, die ihre Arbeit einfach auf Reisen mitnehmen.

Unvergessliche Erinnerungen: Auf Tahiti erlebten sie auf einem Festival traditionelle polynesische Wettkämpfe

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Sie alle zeigen: Die Möglichkeiten sind unbegrenzt, auch ohne prall gefüllte Konten. Im Gegenteil: Zu Hause, so das Resümee der meisten, hätten sie mehr Geld gebraucht. Auch Tölzel und ihr Partner machten diese Erfahrung. Im Schnitt gaben sie monatlich 1 000 Euro pro Person aus. In manchen deutschen Städten wie Hamburg oder München kann man damit gerade mal die Miete einer Zwei-Zimmer-Wohnung zahlen. Für denselben Preis bekamen die beiden ein endloses Kontingent an unvergesslichen Erinnerungen. Dazu gehören auch jede Menge Einsichten, die ihren heutigen Alltag beeinflussen. Etwa die Wertschätzung der eigenen Heimat: „Europa ist wunderschön. Wir wissen oft gar nicht, wie schön – und wie gut wir es hier haben.“ Die 48-Jährige meint damit Häuser aus Stein, aus denen viele Jahrhunderte Kulturgeschichte zu uns sprechen, die Vielfalt des Lebens in jeder Hinsicht, überall fließend Heißwasser oder: ein funktionierendes Abfallsystem.

Berufliche Kompetenzen entwickelt man nicht nur im Job

Das nämlich ist im Großteil der Welt nicht etabliert. Ein Grund, weshalb sich die Marketingmanagerin für ihre Reise ein Projekt überlegte. Der Name: Coastal Plastic Recycling, kurz Coplare. Allein im Nordpazifik, heißt es, wächst seit Jahrzehnten ein Müllstrudel, der sich mittlerweile über eine Fläche von der Größe Zentraleuropas erstreckt. Tölzel, die sich bereits bei ihrem letzten Arbeitgeber intensiv mit Kunststoffen beschäftigte, wollte ihr Wissen unterwegs weitergeben. Um ihren eigenen Beitrag zur Lösung des Problems zu leisten, aber auch, „um mehr an Bord zu haben als uns selbst“. Sie überzeugte einige Sponsoren, gründete einen kleinen Verein. Auf der Website schrieb sie über spannende Initiativen und lokale Lösungsansätze und erreichte damit Leser auf der ganzen Welt. Wenn es heute nicht passt, passt es eben morgen. Über den Nachhaltigkeitsgedanken hinaus wurde das Vorhaben zur Eintrittskarte in verborgene Welten. Ob Treffen mit Lokalpolitikern kleiner Inselstaaten, Interviews mit Abfallmanagern oder Besuchen bei Künstlern, die aus Plastik Kunst machen: „Wir haben Einblicke bekommen, die man als einfacher Tourist und Segler nicht hat“, sagt Tölzel. Und: „Wir konnten den Menschen auch etwas zurückgeben.“ In einer mexikanischen Schule hielt sie einen Vortrag über Abfallentsorgung. Per E-Mail beantwortete sie zahlreiche Anfragen und vermittelte Kontakte.

„Coplare“ führte sie schließlich zu ihrem neuen Arbeitgeber. Seit März vergangenen Jahres arbeitet Tölzel als strategische Beraterin in einer Münchner Agentur für Verpackungsdesign. Der Kontakt zur Geschäftsführung bestand schon vorher, aber das Interesse am Projekt brachte die beiden näher zusammen. Die Agentur legt einen Schwerpunkt auf nachhaltige Verpackungen – dank ihrer Reise kann Tölzel hier jede Menge Fachwissen beisteuern. Statt eines Karriereknicks, wie ihn viele befürchten, hat die Auszeit ihrer beruflichen Laufbahn schließlich zu einer neuen Wendung verholfen. Kompetenzentwicklung findet eben nicht nur im Job statt, sie passiert außerdem in Hobbys, Ehrenämtern oder eben auf Reisen. Arbeitgeber erkennen das zunehmend, flexible Arbeits- und Auszeiten gewinnen an Bedeutung. Letztlich erhält man dadurch nicht weniger als zufriedenere und dankbare Mitarbeiter.

Tölzel etwa hat auf ihrer Reise eine neue Art der Zuversicht entwickelt. „Ich bin entspannter geworden, wenn die  Bedingungen für ein Vorhaben nicht sofort zu passen scheinen.“ Vielleicht ist das auch der beste Rat, den man jemandem mitgeben kann, der selbst einen Traum verwirklichen will: Wenn es heute nicht passt, passt es eben  morgen,  sagt Tölzel und fügt hinzu: „Aber einen Weg gibt es immer, man muss ihn nur finden.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Print-Ausgabe der absatzwirtschaft 05/2016.