Barrieren für innovatives Internet

Fragwürdige Interpretationen von unbestimmten Rechtsbegriffen, antizipierte Verwaltungspraxis im Hinterzimmer, Bußgeldandrohungen, selbstherrliches Auftreten, Profilierungsneurosen und Anmaßung: Die Staatsaufseher des Datenschutzes von Bund und Ländern machen sich bei Rechtsexperten, Marketingmanagern, Wirtschaftsverbänden und der digitalen Wirtschaft derzeit unbeliebt.

Von Gunnar Sohn

Einen unrühmlichen Höhepunkt dokumentierte kürzlich Spiegel-Online: „Keine Google-Anzeigen, weg mit dem Zählpixel: Niedersachsens Datenschützer rüttelt an den Grundfesten der Online-Wirtschaft – und will die Weitergabe von IP-Adressen erschweren. Sollte er sich durchsetzen, wäre es mit Internetwerbung erst mal vorbei.“

Konkret gehe es um das Web-Angebot von Matthias Reincke, dem Betreiber zweier Internetforen, der im vergangenen Jahr von einer Internetnutzerin bei der niedersächsischen Behörde angeschwärzt worden war. Die Behörde prüfte den Vorgang und befahl Reincke, IVW-Zählpixel zur Dokumentation der Seitenbesucher, Google-Werbung und ein Amazon-Partnerangebot von seinen Seiten zu entfernen.
Auslöser der Staatseingriffe ist in der Regel die These der Datenschützer, dass IP-Adressen bereits personenbezogene Daten darstellen. Daher müssten den Betroffenen Widerspruchsmöglichkeiten eingeräumt werden. „Sollte sich diese Einschätzung auf breiter Front durchsetzen, wären weite Teile der deutschen Web-Landschaft unrechtmäßig. Denn das Problem ist aus Sicht des Datenschützers immer dasselbe: IP-Adressen werden an einen weiteren Server übertragen und dabei womöglich nicht nach den Vorstellungen der niedersächsischen Behörde anonymisiert“, schreibt Spiegel Online.

Das Vorgehen der Datenschützer, vor allem in den norddeutschen Bundesländern, sei nur die Spitze des Eisberges, sagt Dr. Michael Wüllrich von der Bonner Kanzlei Schmitz Knoth Rechtsanwälte im Interview mit dem Düsseldorfer Fachdienst MarketingIT. „Das Ganze hat eine erhebliche ökonomische Bedeutung für Firmen wie Google. Hier ist die Verwertung der IP-Adressen für den Geschäftsbetrieb unverzichtbar.“ Ob die Rechtsauffassung des so genannten Düsseldorfer Kreises, einem informellen Zusammenschluss von Datenschützern aus Bund und Ländern, richtig sei oder nicht, müsste höchstrichterlich entschieden werden. „Die Auslegung der Gesetze ist Sache der Gerichte. Es fehlt allerdings eine einheitliche Linie. Wir haben eine unklare Rechtslage und unterschiedliche Entscheidungen von Gerichten“, moniert Wüllrich, Fachanwalt für gewerblichen Rechtschutz.

Aktuell könne man mit gutem Gewissen die Wertung vornehmen, dass IP-Adressen keine personenbezogenen Daten sind – auch wenn der Düsseldorfer Kreis das Gegenteil behauptet. Dann sollten doch die Datenschützer Wahlbrink oder Kasper mit ihren Bußgeldandrohungen weitermachen. Eine endgültige Klärung bekomme man nur vom BGH oder Bundesverwaltungsgericht. Für die digitale Wirtschaft wäre es ratsam, es auf Klagen ankommen zu lassen. „Gegen die Verfügungen der Datenschützer sollten in jedem Fall Rechtsmittel eingelegt werden. Hier muss die Internet-Branche einheitlich vorgehen und verhindern, dass es zu bestandskräftigen Entscheidungen kommt“, rät Wüllrich. Den ersten richtig guten Fall, wie in Niedersachsen, dürfe die digitale Wirtschaft nicht lapidar begleiten. Hier müssten die Interessen aller Unternehmen gebündelt werden. Die Nutzer der IP-Adressen sollten einen Gegenpol zum Düsseldorf Kreis organisieren.

Die Komplexität der heutigen Medienlandschaft, vor allem der digitalen, erfordert nach Auffassung des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft (BVDW) ein tiefergehendes Verständnis für technische Prozesse und die Mediennutzungsanforderungen der Anwender. „Hier wünschen wir uns einen intensiveren Dialog, so dass ein beiderseitiges Verständnis besser möglich ist. Womit wir aber nicht einverstanden sind, ist, dass ein grundsätzliches Misstrauen gesät und eine staatliche Regelungsbedürftigkeit gegenüber grundlegenden Themen der Entwicklung des Internets gefordert wird. Industrie und Internetnutzer haben ein Recht auf ein innovatives Internet“, sagt Thomas Schauf,
Projektleiter Selbstkontrolle Online-Datenschutz beim BVDW.

Ein moderner Datenschutz müsse anerkennen, dass sich durch digitale Medien soziale Strukturen und Ordnungen verschoben haben und weiter verschieben: „So hat das Internet ein neues Verständnis zwischen privat und öffentlich entwickelt – diese Diskussion muss in der gesamten Gesellschaft geführt werden. Ein international agierendes soziales Netzwerk lässt sich schwerlich mit nationalen Rechtsnormen gestalten. Auch lässt sich die gelernte Rolle des Nationalstaats als klar definierter Rechtsraum in der globalen digitalen Welt nur schwer anwenden. Viel wichtiger sind internationale Spielregeln: Wir brauchen ein international harmonisiertes Verständnis für Fragen des Datenschutzes; darunter fallen auch einheitliche Definitionen für personenbezogene Daten oder eine einheitliche Definition des öffentlichen Raums“, erläutert Schauf gegenüber marketingIT.

Das Internet sei in seiner Grundeinstellung ein öffentlicher Raum und kein privater. Sonst würden viele Anwendungsszenarien gar nicht mehr funktionieren. Schauf widerspricht der Rechtsauffassung des Düsseldorfer Kreises: „Es gibt Anwendungsszenarien, in denen die IP-Adresse einen Personenbezug besitzt, wenn beispielsweise beim Internetzugangs-Anbieter die IP-Adresse zu Abrechnungszwecken gespeichert werden muss. Aber für die allermeisten Szenarien besitzt die IP-Adresse keinen Personenbezug.“

Die antizipierte Verwaltungspraxis der Datenschützer sollte stärker hinterfragt werden: „Die gegenwärtigen Diskussionen sind meines Erachtens eher ein klares Zeichen dafür, dass wir Gesprächsbedarf und einen noch zu gestaltenden und definierenden öffentlichen Raum haben. Dazu müssen aber alle beteiligten Gruppen sprechen – die Anbieter, die Nutzer, die Politik und die Datenschützer: Die Deutungshoheit sollte niemand in diesem neuen Umfeld für sich allein reklamieren“, sagt Schauf.

Siehe auch:

Facebook-Paranoia der Datenschützer

Spiegel Online