Wie in Japan aus Barrieren Werte geschaffen werden

Kein Land der Welt altert schneller als Japan. Bereits heute ist jeder vierte Japaner im Rentenalter. Wenn es um Lösungsmodelle zur Integration von Menschen mit diversen körperlichen Einschränkungen geht, lohnt sich also der Blick nach Fernost.
In Japan gibt es circa zehn Millionen Menschen mit Behinderung und 2,8 Millionen, die ähnliche Bedürfnisse haben wie Rollstuhlfahrer. (© Unsplash/REDD Collective)

Vom Susanne Steffen

Toshiya Kakiuchi hat sich auf die Fahnen geschrieben, diesen Milliardenmarkt für Nippons Unternehmen leicht und schnell zugänglich zu machen. Dafür hat der 33-Jährige, der selbst seit seiner Kindheit im Rollstuhl sitzt, das Beratungsunternehmen Mirairo gegründet, mit dem er Regierungsstellen und Unternehmen bei der Einführung eines universellen Designs in allen Bereichen unterstützt.

Kakiuchis Credo lautet: aus Barrieren Werte schaffen. Sein neuester Coup ist eine App, die Unternehmen und Menschen mit Behindertenausweis zusammenbringt und virtuelle Transaktionen jeder Art erleichtern soll. Drei Stichworte zur größten Community ihrer Art: Marktforschung, Onlineshops, Stellenanzeigen.

Herr Kakiuchi, bitte geben Sie uns einen kurzen Überblick über den Markt, den Menschen mit Behinderungen in Japan ausmachen.

In Japan leben laut Regierungsstatistiken etwa 36 Millionen Rentner. Das ist ein Viertel der Bevölkerung. Dazu kommen circa zehn Millionen Behinderte und knapp 2,8 Millionen junge Eltern, die Kinderwägen schieben und daher ähnliche Bedürfnisse haben wie Rollstuhlfahrer. Insgesamt zählt also etwa ein Drittel unserer Bevölkerung zu dieser Gruppe.

Diese Zahlen geben Anlass zu der Vermutung, dass Japan ein Musterland in Sachen Barrierefreiheit ist.

Was die physische Infrastruktur angeht, haben Japans Unternehmen ganze Arbeit geleistet. Mittlerweile verfügen zum Beispiel 96 Prozent aller Bahnhöfe in Tokio über Aufzüge. In anderen Großstädten sieht es ähnlich aus. Auch im internationalen Vergleich können wir uns sehen lassen. In Paris sind gerade einmal drei Prozent aller Bahnhöfe mit Aufzügen ausgestattet, in London sind es 18 Prozent und in New York 25 Prozent.

Der Gründer des Beratungsunternehmens Mirairo, Toshiya Kakiuchi, sitzt selbst seit seiner Kindheit im Rollstuhl. (Foto: Mirairo Incorporated)  

Inwieweit haben denn Japans Unternehmen diese Kundengruppen bereits erschlossen?

Obwohl wir Spitzenreiter bei der physischen Infrastruktur sind und ein gigantisches Marktpotenzial haben, liegt auch bei uns in Japan noch ein großer Teil dieses Marktes brach. Wir schätzen, dass sich nur etwa fünf Prozent aller japanischen Unternehmen auf die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe eingestellt haben. Dabei genügen manchmal kleine Veränderungen, um Kundengruppen mit Behinderungen für sich zu gewinnen. Meine Firma bietet Lehrgänge an, in denen wir Servicepersonal in Sachen universelle Benimmregeln („universal manners“) ausbilden. Wir erklären zum Beispiel, dass es unhöflich ist, wenn man einem Rollstuhlfahrer im Restaurant keinen Stuhl anbietet. Umfragen unter unseren Kunden haben gezeigt, dass allein wegen der Einhaltung universeller Höflichkeitsregeln gut 40 Prozent der Rentner und 60 Prozent der behinderten Gäste wiederkommen.

Wie sieht es denn im virtuellen Bereich aus? Ist Japan da in Sachen universeller, barrierefreier Infrastruktur genauso weit vorangeschritten wie bei der realen Infrastruktur?

Laut Regierungsstatistiken nutzen 80 Prozent aller Menschen mit Beeinträchtigungen an Armen und Beinen Smartphones. Bei den Sehbehinderten sind es gar 90 Prozent. Trotzdem haben nur knapp zehn Prozent der Unternehmen ihre Onlineauftritte halbwegs barrierefrei gestaltet. Wir können leider nicht behaupten, dass Japan in diesem Bereich Vorreiter ist. Selbst  scheinbar simple Dinge wie Onlinereservierungen von Zugsitzen für Rollstuhlfahrer waren lange Zeit eine unüberwindbare Hürde. Ein Unternehmen, das hier positiv hervorsticht, ist der Onlineflohmarkt Mercari. Sie haben als einer der ersten Onlineshops einen Dark Mode für Menschen mit Sehbehinderung eingeführt und sogar eine Spezialabteilung gegründet, die sich mit der Schaffung einer barrierefreien virtuellen Infrastruktur beschäftigt.

Warum ist der Ausbau einer barrierefreien virtuellen Infrastruktur denn so schwierig?

Die größte Hürde ist ganz simpel: Es war lange nicht möglich, die Personenidentifikation online durchzuführen. Wenn es Ermäßigungen für Behinderte gibt, muss nämlich ein Behindertenausweis vorgelegt werden. Es gibt in Japan aber 283 verschiedene Arten von Behindertenausweisen, von denen viele mit marktüblicher Software obendrein auch noch relativ leicht gefälscht werden können. Für ein einzelnes Unternehmen war der Aufwand einfach viel zu hoch, ein Onlinesystem aufzubauen, das alle Ausweistypen erkennt und auch noch mit halbwegs hoher Treffsicherheit Fälschungen aussortiert. Deshalb haben Unternehmen bislang darauf bestanden, dass der Otiginal-Behindertenausweis am Schalter vorgelegt werden muss. 

Im Zuge der Covid19-Pandemie hat dies dazu geführt, dass viele Unternehmen ihre Reservierungs- und Verkaufsangebote für Behinderte eingestellt haben, weil sie die sozialen Distanzregeln nicht gewährleisten konnten. Diese Situation hat die Regierung aufgerüttelt. Im vergangenen Jahr hat das neu gegründete Amt für Digitalisierung die Wirtschaft ganz klar und deutlich aufgefordert, endlich Onlinereservierungs- und -verkaufssysteme für Behinderte einzuführen.

Sie wollen dieses Problem mit einer simplen App lösen. Bitte erklären Sie, wie diese funktioniert.

Wir haben eine Smartphone-App namens Mirairo ID entwickelt, die jeden Behindertenausweis auf die sicherste mögliche Art digitalisiert. Zu diesem Zweck haben wir eine KI eingebaut, die alle 283 Ausweistypen erkennt und bei möglichen Fälschungen Alarm schlägt. Außerdem schauen Mitarbeiter auf die Dokumente, bevor der Registrierungsprozess abgeschlossen wird. Und wir kooperieren mit der Regierung. Japan vergibt seit 2015 an jeden Bürger eine zwölfstellige Identifikationsnummer, die für die Verwaltung von Sozialversicherungsdaten, Steuerdaten et cetera verwendet wird. In unserer App können die behinderten Nutzer entscheiden, ob ihr eingelesener Behindertenausweis mit ihrer persönlichen  Identifikationsnummer verknüpft werden darf. Das erhöht natürlich das Vertrauen in den digitalen Behindertenausweis. Manche Unternehmen erkennen nur die mit den persönlichen Identifikationsnummern verknüpften Mirairo IDs an.

Wenn jedes Unternehmen so eine App für ihre virtuelle Kommunikation mit behinderten Kunden erfinden müsste, müsste wohl jede Chefetage eine Spezialabteilung eigens zu diesem Zweck einrichten. Auch wenn der Behinderten-Markt nicht klein ist, denke ich dennoch, dass das Risiko besteht, dass ein einzelnes Unternehmen eine so große Investition nicht wieder reinholen kann. Was wir brauchen ist eine gemeinsame Plattform wie unsere Mirairo ID.

Bitte erklären Sie uns die Mirairo ID etwas genauer. Wie funktioniert diese Plattform?

Unsere App ist zwar in erster Linie ein digitalisierter Behindertenausweis, aber sie kann noch viel mehr. Die Unternehmen können unsere Plattform auch nutzen, um zielgruppenspezifisches Marketing unter unseren behinderten Usern zu betreiben. Diese App ist nämlich gleichzeitig eine Art digitale Behinderten-Community. Viele Unternehmen nutzen unser Angebot, gegen eine kleine Gebühr Discount Coupons an alle Mirairo-ID-User zu verschicken. Auch immer mehr Onlineshops machen von diesem Angebot Gebrauch. Unsere Community darf zudem für Marktforschungszwecke genutzt werden. Wir haben deshalb extra eine Umfragefunktion integriert. In unserer Community dürfen natürlich auch Stellenanzeigen veröffentlicht werden.

In Zukunft wollen wir die Plattform noch weiter ausbauen. Wir arbeiten gerade daran, dass zum Beispiel Rollstuhlfahrer die Maße ihres Rollstuhls speichern können, welche dann automatisch beim Kauf eines Flugtickets oder der Bestellung eines Taxis an das Unternehmen übermittelt werden. So weiß das Taxiunternehmen ohne viel Hin und Her sofort, wie groß der Kofferraum des bestellten Autos sein muss, damit der Rollstuhl reinpasst. Außerdem wollen wir die Mirairo ID mit einer anderen Apps aus unserem Hause verknüpfen, einer digitalen Karte, über die wir mithilfe unserer User Infos über die Barrierefreiheit von Restaurants, Kaufhäusern et cetera sammeln und veröffentlichen.

Wie viele User hat die Mirairo ID? Und wie wird Ihre Plattform bei den Unternehmen angenommen?

Leider darf ich die genaue Zahl unserer User nicht verraten. Nur so viel: Es sind mehrere Zehntausend.

Als wir im Juli 2019 online gegangen sind, hatten wir sechs Mitgliedsunternehmen. Mittlerweile sind es knapp 3400. Darunter fast alle großen Bahn- und Fluggesellschaften. Anfangs mussten wir die Entwicklungskosten ganz allein tragen. Für uns als Venture bedeutete das neben der Investition fast all unserer Gewinnne die Aufnahme von jeder Menge Bankkrediten. Später haben auch Partnerunternehmen angefangen, in unser Projekt zu investieren, weil sie gemerkt haben, dass unsere Plattform ihnen hilft, ihr Geschäft zu optimieren.

Vor Kurzem ist einer der größten Kurierdienste des Landes eingestiegen. Wir arbeiten nun gemeinsam an der Lösung der spezifischen Probleme dieses Unternehmens im Umgang mit behinderten Kunden. Zum Beispiel bekommen Hörbehinderte oft nicht mit, wenn es an der Tür klingelt, so dass die Boten zwei, drei Mal vorbeischauen müssen, bis sie ihr Paket abliefern können. Das ist teuer für das Unternehmen. Mit unserer App wird der Kurierdienst künftig hörbehinderte Kunden online erreichen und sich doppelte und dreifache Auslieferungsversuche sparen können.

In Deutschland wird ab 2025 die Barrierefreiheit im E-Commerce verpflichtend. Haben Sie ein paar Tipps, wie sich die hiesigen Betreiber von Onlineshops vorbereiten können?

Das allerwichtigste ist, dass sie den Menschen zuhören und herausfinden, welche Bedürfnisse behinderte Kunden tatsächlich haben. Dafür müssen sie Marktforschung betreiben – für die verschiedenen Behinderungen getrennt. Das geht am besten, wenn sich die Unternehmen zusammenschließen. Ich darf das Land noch nicht beim Namen nennen, aber wir verhandeln gerade mit einem EU-Mitgliedsstaat über die Einführung der Mirairo ID. Wenn sich unser System – oder eine ähnliche Plattform – europaweit einführen ließe, würde das den lokalen Unternehmen bei der Erschließung des Behinderten-Markts sehr helfen und die digitale Barrierefreiheit enorm voranbringen.

Sie haben Ihrer Firma das Motto gegeben „aus Barrieren Werte schaffen“. Was genau meinen sie damit?

Ich will mir nicht die Frage stellen müssen, was ich tun kann, obwohl ich behindert bin. Ich habe mich stattdessen während meines Studiums gefragt, was kann ich tun, gerade weil ich behindert bin. So bin ich auf die Idee gekommen, Seminare für universelle Benimmregeln anzubieten. Daraus ist im Laufe der Zeit Mirairo entstanden. Viele Behinderungen gehen mit besonderen Fähigkeiten einher, zum Beispiel haben geistig behinderte Menschen oft eine enorme Konzentrationsfähigkeit, die sich für Programmierarbeiten bestens eignet.

Wenn sich meine Philosophie etabliert, dann werden wir es hoffentlich endlich schaffen, die Diskriminierung von Behinderten zu überwinden und eine Gesellschaft zu schaffen, in der Behinderungen einen ähnlichen Stellenwert haben wie besondere Begabungen.