Das kubanische Amazon 

Mit 20.000 Pfund an Ersparnissen startet Alejandro Peñalver Mauri den Vertrieb von Fotos via WhatsApp. Heute betreibt er die erste E-Commerce-Plattform mit Sitz Kuba, die in kubanischen Pesos verkauft. Sein erklärtes Ziel: das Amazon Kubas aufbauen.
Kuba lebt seit dem Zusammenbruch des Ostblocks Anfang der Neunzigerjahre gewissermaßen im Krisenmodus. (© Shutterstock)

Mit dem Fahrstuhl geht es in den neunten Stock des Edificio Focsa. Das 36-stöckige Gebäude ist eines der emblematischen Bauwerke Havannas, einen Steinwurf entfernt vom Hotel Nacional und der Uferpromenade Malecón. Im Jahr seiner Fertigstellung 1956 war es das zweithöchste Betongebäude der Welt. Bis heute gilt es als eines der sieben Wunder des kubanischen Bauwesens. 

Alejandro Peñalver Mauri belegt mit seiner Agentur den Großteil eines Seitenflügels der neunten Etage. Im Eingangsbereich sitzen Mütter mit ihren Töchtern und warten auf ein Fotoshooting oder einfach darauf, Fotos abzuholen. Ein aufgetakeltes Model stakst auf hohen Hacken durch den Raum und verschwindet hinter einer Tür. Ein verwinkelter Flur verbindet mehrere Büros, in denen Grafikdesigner oder Software-Ingenieurinnen an Computern sitzen oder ein Schwätzchen an der Kaffeemaschine halten. 

Das ambitionierte Ziel: Das Amazon Kubas werden 

Peñalver, in T-Shirt und Sneakern, grüßt nach links und rechts, das Handy ständig am Ohr, um kurze Anweisungen zu geben oder ein Treffen auszumachen. Dabei schlängelt er sich vorbei an offenen Umzugskartons, die überall herumstehen. Die Szenerie hat etwas Unfertiges. Peñalvers Ziel aber ist klar: „Das hier soll einmal das Amazon Kubas werden.“ 

Der 31-Jährige hat Wirtschaft an der Universidad Habana (UH) studiert. Nach seinem Abschluss 2015 arbeitete er eine Zeitlang an der Uni als Dozent. Nebenher gründete Peñalver eine Modelagentur, Cubamodela. Die kümmerte sich um das Casting und ganze Fotoproduktionen, vor allem für ausländische Fotografen. 

Es war die Zeit des Aufbruchs in Kuba. Der damalige US-Präsident Barack Obama und Kubas Staatschef Raúl Catro hatten die jahrzehntelange Eiszeit zwischen ihren Ländern beendet. Stars und Sternchen gaben sich in Havanna die Klinke in die Hand. Madonna, Rihanna, Will Smith – sie alle kamen in die kubanische Hauptstadt, Karl Lagerfeld ließ seine Models über den Prado-Boulevard defilieren und die Rolling Stones spielten vor Hundertausenden begeisterten Zuschauern. 

Die Entscheidung für Kuba 

Mit einem Stipendium geht Peñalver 2017 nach Großbritannien, um dort einen Master in Management & Entrepeneurship zu machen. Als er den Ende 2019 in der Tasche hat, muss er eine Entscheidung treffen. Gegen den Trend entscheidet er sich für eine Rückkehr auf die Insel. Er will sich etwas Eigenes aufbauen. 

Alejandro Peñalver Mauri will seine E-Commerce-Plattform zum „Amazon Kubas“ machen. ©Celia Carolina

„In Großbritannien hatte ich andere Businessmodelle kennengelernt und kam mit einer Vision zurück“, sagt Peñalver. Die Modelagentur war während seiner Zeit in Großbritannien auf Sparflamme weitergelaufen. Er beschließt, den Namen Cubamodela zu behalten – „In der Welt der Mode und Fotografie war es eine etablierte Marke“ –, aber das Geschäftsmodell grundlegend zu ändern. 

Ein Land im Krisenmodus 

Kuba lebt gewissermaßen seit dem Zusammenbruch des Ostblocks Anfang der Neunziger im Krisenmodus. Mit der Pandemie verschärfte sich die Krise noch einmal dramatisch. Die Einnahmen aus dem Tourismus brachen fast vollständig weg; immer schärfere US-Sanktionen erschwerten Geldüberweisungen von Auslandskubanern. Der Staat war praktisch pleite. 

Um dringend benötigte Devisen einzunehmen, eröffnet die kubanische Regierung staatliche Devisenläden, in denen zunächst Haushaltsgeräte und Autoteile, später auch Lebensmittel und Hygieneartikel gegen Kartenzahlung in ausländischen Währungen verkauft werden. Das Sortiment in den Nicht-Devisenläden dagegen ist ausgedünnt. Und dort, wo es noch etwas zu kaufen gibt, bilden sich zum Teil stundenlange Warteschlangen. 

„Krise schafft Wachstumspotential“, sagt Peñalver. „Da es nichts gibt, kannst Du Nischen besetzen und Marktführer werden, die Blue-Ocean-Strategy.“ Es sei ein guter Moment für Geschäfte in Kuba. „Kubaner, die ein Geschäfte aufmachen wollen, denken an eine Bar oder Restaurant, aber nicht darüber hinaus“, sagt er. „Jeder, der mit einer innovativen Idee kommt, wird triumphieren … Kuba ist ein jungfräuliches und fruchtbares Land.“ 

20.000 Pfund Startkapital 

Mit seinen Ersparnissen von rund 20.000 Pfund als Startkaptal legt Peñalver los. US-Präsident Donald Trump hatte mittlerweile die Öffnungspolitik seines Vorgängers Obama zurückgedreht. Die Pandemie würgte den Tourismus vollends ab. Statt auf ausländische Fotoproduktionen konzentriert sich Peñalver auf den Inlandsmarkt und traditionelle Fotografie: Quinceañera, der in Lateinamerika groß zelebrierte 15. Geburtstag von Mädchen, Kinder- und Familienfotos.  

„Aber meine Idee war es, zu verkaufen. Ich musste also zeigen, dass ich verkaufen kann.“ Als die staatlichen Geschäfte in der Pandemie immer leerer werden, beginnen die Menschen in Kuba, WhatsApp- oder Telegram-Chatgruppen zu nutzen, um knappe Güter zu handeln oder Informationen darüber auszutauschen, was es wo gibt. 

Online-Lieferdienste via WhatsApp-Geschäftskonten 

Peñalver fängt an, über WhatsApp-Geschäftskonten Online-Lieferdienste anzubieten. Um zu zeigen, dass er gut verkaufen kann, verlegt er sich auf Produktfotografie und Werbung. Peñalver lässt Hochglanzfotos von Schmuck, Geschenkartikeln und Taschen anfertigen; ein Netz von Verkäufern und Promotorinnen kümmert sich gegen Kommission um den Vertrieb über WhatsApp-Gruppen. Den bald einsetzenden Erfolg nutzt er, um weitere Kleinunternehmer zu überzeugen, ihn ihre Waren verkaufen lassen. Das WhatsApp-Vertriebsnetz wächst. Immer weiter.  

„In einer ersten Etappe war es vor allem Webmarketing über WhatsApp“, sagt Peñalver. In Kuba seien sie damit Vorreiter gewesen. „Die Promoter sind effektiv, um eine Marke zu etablieren.“ In weniger als einem Jahr macht Peñalver sein Studio zu einem der wichtigsten in Kuba – und das ohne Webseite, nur über WhatsApp-Marketing, wie er sagt. 

Im nächsten Schritt automatisiert er die Prozesse der WhatsApp-Gruppen. Anfang 2022 geht Peñalvers erster Onlineshop an den Start: Lebensmittel, Kleidung, Schuhe, Taschen, Geschenkartikel – alles kubanische Produkte; nur die Lebensmittel werden größtenteils importiert. „Es ist die erste E-Commerce-Plattform in Kuba, die in kubanischen Pesos verkauft und ihren Sitz in Kuba hat“, sagt Peñalver nicht ohne Stolz. Neben elektronischen Überweisungen über die kubanischen Zahlungs-Apps Transfermovil und EnZona oder Barzahlung können die Kunden mittlerweile auch per Visa oder Mastercard zahlen. So können beispielsweise Auslandskubaner Lebensmittel oder andere Produkte online einkaufen und ihren Familienangehörigen oder Freunden und Bekannten auf der Insel nach Hause liefern lassen. 

Die größte Herausforderung: ein stabiles Angebot 

Ein stabiles Angebot zu gewährleisten, sei auf Kuba jedoch schwierig, erklärt Peñalver. Vor allem Lebensmittel wie Pasta oder Tomatensoße sind oft schnell ausverkauft. Deshalb suche er ständig Lieferanten – kubanische, aber auch internationale Unternehmen. Seit Kurzem nämlich kann er über staatliche Importfirmen Waren nach Kuba einführen. Ein großer Fortschritt, wie Peñalver sagt. 

Überhaupt entwickelten sich die Dinge aus seiner Sicht in die richtige Richtung. Im Sommer 2021 schafft die kubanische Regierung erstmals eine Rechtsform für kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 100 Angestellten. Bis dahin waren nur Einzelunternehmer in wenigen Geschäftszweigen zugelassen, Wohnungsvermietung, Taxi fahren oder exotische Beschäftigungen wie Feuerzeugauffüller.  

Peñalver profitiert von der Neuregelung. Mittlerweile beschäftigt er mehr als 40 Angestellte. Ein „radikales Hindernis“ aber sei die US-Blockade, klagt er, „sowohl was Investoren, Lieferanten oder Kunden angeht. Ich kann kein Konto in den USA haben, ich kann dort nicht legal ein- oder verkaufen, ich kann Facebook oder Instagram nicht für Ads bezahlen …“ Dabei sind die USA der größte Markt; dort leben Millionen Kubaner und Kubanerinnen – und jeden Tag werden es mehr. 

Peñalvers Geschäft wächst, trotz aller Hindernisse 

Trotzdem wächst das Geschäft. Mittlerweile baut Peñalver Webshops für interessierte Unternehmen, unter anderem für ein kubanisches Möbelhaus und einen Autoteilehandel. Mit weiteren Firmen sei er in Verhandlungen. Zur Anschauung scrollt Peñalver durch den Webshop auf dem Bildschirm seines Smartphones. Das Erscheinungsbild ist sehr professionell, mit einem Klick landen die Produkte im Warenkorb. 

Das ist der dritte Geschäftszweig: professionelle Dienstleistungen aller Art, Unternehmensprofile in den sozialen Netzwerken, maßgeschneiderte Shops, spezielle Software. Dafür beschäftigt Peñalver ein Team von Programmierern, das sowohl für kubanische als auch internationale Kunden arbeitet. Als erster in Kuba bietet er Suchmaschinenoptimierung, kurz: SEO, an. Hinzu kommen Webdesign, Markenentwicklung, Corporate-Design, Firmen- und Produkt-Präsentationen – das komplette Paket, wie er sagt. „Wir greifen in alle Ebenen des Sales-Funnel ein.“ 

Kundenbindung soll via Social Media gesteigert werden 

Das Fotostudio hilft, die Inhalte zu zeigen und Kunden zu gewinnen, sagt Peñalver. Er setzt weiterhin auf WhatsApp-Marketing oder soziale Netzwerke wie Instagram. Über Verlosungen dort versuche er die Kundenbindung zu erhöhen. Oder per E-Mail-Marketing. „Wer sich auf der Seite anmeldet, gibt seine E-Mail-Adresse ein – und erhält von uns Angebote.“ Peñalver erklärt es an einem Beispiel: „Nimm jemanden, der Babywindeln kauft. Kinder werden älter, also erhalten diese Kunden von uns nach einem Jahr Angebote für Produkte für ein einjähriges Kind.“ 

Auch analog, in den in Kuba allgegenwärtigen Warteschlangen vor halbleeren Geschäften versucht Peñalver, für seine Webshops zu werben. Er schickt Tänzer oder auch mal einen Clown, die die Aufmerksamkeit der Wartenden erregen. „Die Leute in den Warteschlangen haben in der Regel Devisen und sind von der Warterei gelangweilt – perfekt, um sie zu erreichen und ihnen zu sagen: Schau, hier im Webshop kannst du so viel Hühnchen kaufen, wie du willst, und das mit nur einem Klick von zuhause aus.“ 

Im Moment versucht Peñalver, die drei Geschäftszweige – Fotostudio, Onlineshop, professionelle Dienstleistungen – räumlich zu trennen. „Die Büros hier im Focsa-Gebäude sind zu klein geworden“, sagt er. Es werde zunehmend unpraktisch. „Vor Kurzem wurde eine halbe Tonne Pasta angeliefert. Die mussten wir im Aufzug in den neunten Stock bringen.“ Er sucht nun ein ebenerdiges Lager. Dann will er mit dem Onlinehandel so richtig durchstarten.