Kolumne: Anfang oder Ende von „Made in Germany“?

Amerikaner haben einen Traum, Chinesen einen Plan und Deutsche eine Technologie. Hat Deutschland seien Vorreiterrolle verloren? Jürgen Gietl über die Zukunft der deutschen Wirtschaft. 
Jürgen Gietl

Wenn man die Diskussion um die Zukunft der deutschen Wirtschaft in der Öffentlichkeit verfolgt, gewinnt man den Eindruck, wir stünden unmittelbar vor dem Untergang. Deutschland hat scheinbar in allem den Anschluss verloren: Die Intelligence- und Technologiehubs für Daten, Internet und Digitalisierung sind bei Google, Facebook, Alibaba und Amazon. Und auch bei KI gibt es andere Vorreiter. Ist das tatsächlich so?

Die Weltleitmesse für Automatisierung, SPS, findet in Nürnberg statt. Nicht nur weil hier ein perfekt passendes Messegelände steht, sondern weil die wesentlichen Player und Forscher dieser Branche dort beheimatet sind. Typisch deutsch ist, dass davon nur die wenigsten wissen.

In diesem Jahr feiert eines der größten KI Labore der Welt, das Deutsche Forschungszentrum für KI (DFKI), mit 880 Mitarbeitern aus 60 Nationen sein 30-jähriges (!!) Bestehen. Fast 80 Firmen haben die Wissenschaftler bereits ausgegründet. Und mit Prof. Dr. Schmidhuber kommt die führende Kapazität der KI Forschung aus Deutschland. Nicht zu vergessen: Das Fraunhofer Institut, welches bereits seit den 1970er Jahren an den Grundlagen und praktischen Anwendungen von KI forscht. Mit seiner langjährigen Erfahrung in Data Science gehört das Fraunhofer IAIS in Bonn zu den führenden Einrichtungen für angewandte Big-Data Forschung in Europa. Laut Institut der Deutschen Wirtschaft entfallen mehr als die Hälfte der weltweit angemeldeten Patente zum autonomen Fahren auf deutsche Hersteller. Unter den Top 10 befinden sich sechs Unternehmen aus Deutschland. Auf Platz 1 steht Bosch.

Die Voraussetzungen wären also gut, auch in Zukunft eine führende Rolle als Industrienation einzunehmen. Doch warum gewinnt man den Eindruck, deutsche Unternehmen wurden vom globalen Wettbewerb überholt? Je nach Studie investieren sie im Vergleich zu amerikanischen oder chinesischen Unternehmen viel zu wenig in die Zukunftstechnologien, und Digitalmessen wie die SXSW in Austin oder die CES in Las Vegas würden den hiesigen Industriemessen den Rang ablaufen. Ist es wirklich eine Frage der Leistungskraft unserer Unternehmen, unserer Wissenschaftler, unserer Investoren und unserer Gesellschaft? Sind wir weniger schnell, cool, anpassungsfähig und risikobereit? Vermutlich nicht. Anführer agieren einfach anders als Angreifer.

Wenn man die auf der SXSW getätigten Aussagen komprimiert, brauchen erfolgreiche Unternehmen in der digitalen Welt vor allem Haltung, Selbstverständnis und Geschwindigkeit. Ohne diese Faktoren sind die bahnbrechendsten Innovationen und die besten Geschäftsmodelle nichts wert. Es gilt: Amerikanische Unternehmen haben einen Traum, Chinesen haben einen Plan und deutsche eine neue Technologie. Aber das alleine wird uns nicht reichen, um in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein. Es wird auch nicht reichen, aufgrund neuer digitaler Fertigungsmöglichkeiten die Produktion nach Deutschland zurück zu verlagern.

Made in Germany 4.0

Es ist die Herausforderung der Kommunikation, die Haltung, das Selbstverständnis, aber vor allem die Wahrnehmung der Zukunftsfähigkeit der deutschen Industrie zu verändern. Sich weiterhin als Hidden Champion auf der Weltbühne in Nischen zu präsentieren, wird dabei nicht mehr reichen. Es braucht ein „Made in Germany 4.0“. Wenn wir diese Qualitätssiegel neu erfinden und für die digitale Welt wirksam werden lassen wollen, brauchen unsere Unternehmen und unsere Gesellschaft einen Traum, einen Plan und Technologien, die darauf getrimmt sind, die Lebensknappheiten der Menschen besser zu befriedigen als dies die Angebote aus China oder USA können – und je können werden. Gepaart mit einer Kultur, die zu uns und zur digitalen Welt passt und die die deutsche Industrie nicht alt, sondern so hipp aussehen lässt, wie sie ist. Wir brauchen weltweites Aufsehen, um selbst an diese Veränderung zu glauben und auf unsere führenden Technologien stolz zu sein.