Abschalten ist überlebensnotwendig

Die Mehrheit der Menschen gehört heute zur Gattung des „homo connectus“. Sie will die permanente kommunikative Vernetzung und Erreichbarkeit, fühlt sich von ihr aber zugleich geplagt oder gar überfordert. Bei der Menge an Emails, die wir täglich verarbeiten müssen, ist das auch kein Wunder.

Wenn besonders aktive Wissensarbeiter in den USA 341, in Großbritannien 320, in Deutschland 301 und in Frankreich 256 Mails am Tag empfangen und senden, dann lässt sich leicht vorstellen, was es bedeutet, einen Tag offline zu bleiben. Am nächsten Tag sind dann eben zwischen 500 und 700 Mails zu lesen, zu löschen oder zu beantworten. Berechnungen einer Studie des Henley Management College in Großbritannien Anfang 2007 haben ergeben, dass Manager insgesamt 3,5 Jahre ihrer Lebenszeit mit irrelevanten Emails verschwenden.

Wo Überforderung entsteht, da entwickeln Menschen zuweilen seltsame Maßnahmen, um sich ihrer zu erwehren. Eine Befragung von mehreren hundert Führungskräften in Deutschland im vergangenen Jahr zeigte, dass Manager mit Hilfe der mobilen Kommunikationstechnologien regelmäßig lügen. 81 Prozent der Befragten gaben an, oft beziehungsweise sehr oft die Unwahrheit zu schreiben, um sich dem permanenten Erreichbarkeitsdruck per Ausrede zu entziehen: „Kein Handy-Empfang“, „Klingeln nicht gehört“, „Probleme mit dem Email-Server“, „Akku leer“ oder „habe im Flugzeug gesessen“ sind die häufigsten Ausreden für einen Kommunikationsabbruch. Sie stimmen fast nie. Das ist ein ganz klares Zeichen für Überforderung: Die Lügner wollen nicht lügen, sie wollen dem hohen Kommunikationsdruck der ständigen Erreichbarkeit einfach einmal entfliehen.

Ich finde: Gerade in der vernetzten Mailkultur ist Abschalten überlebensnotwendig. Wir müssen selbst entscheiden, ob wie dauernd kommunizieren wollen, oder ob wir auch Pausen brauchen, um nachzudenken, uns zu konzentrieren oder mit einem Freund oder Kollegen einfach mal in Ruhe und ungestört zu reden. Dazu muss jeder selbst in der Lage sein, sein Mailprogramm gelegentlich auszustellen. Und man darf auch anderen zeigen, was man nicht will. Emails zum Beispiel, die auf jede Anfrage drei Gegenfragen folgen lassen. Oder solche, die 30 Personen auf cc setzen. „Cover your ass“, nennen die Amerikaner das zutreffend: Ich versuche, „meinen Arsch zu retten“, indem ich meine Verantwortung per Email auf möglichst viele andere Menschen verteile. Die müssen dann damit fertig werden.

Manchmal muss man übrigens nicht nur sich selbst, sondern auch anderen helfen, der Mailfalle zu entkommen. Kürzlich bekam ich von einem Kollegen eine automatische Emailantwort. Darin stand: „Ich werde Ihre Email nicht lesen, weder vor, noch während, noch nach meinem Urlaub. Machen Sie sich also keine Hoffnung auf eine Antwort. Am besten, Sie behalten Ihren Mist demnächst einfach für sich.“ Da ist gelegentliches Abschalten dann doch die höflichere Variante. Aber wenn der „homo connectus“ durch kommunikatives Dauerrauschen zum „homo hystericus“ geworden ist, ist es dafür meist schon zu spät.

Über die Autorin: Prof. Dr. Miriam Meckel ist Professorin für Corporate Communication, geschäftsführende Direktorin am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen, Schweiz, sowie Beraterin für Kommunikationsmanagement und Public Affairs.

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