Zwischen E-Service-Wüste und Growth-Hacking-Happening

Mobile first, hyperindividualisierte Realtime-Kampagnen, regionalisierte, ja lokalisierte Werbung: Die Herausforderungen der Zukunft verlangen optimale digitale Vernetzung. Vor allem aber eins – einen klaren Fokus auf den Kundennutzen.
Die Customer Journey nimmt zunehmend eine Schlüsselrolle ein. (© Fotolia 2015)

Schauplatz Elektronikmarkt in einer deutschen City, Sommer 2015: Vor Ort ist eine Wunsch-Kundin – sie hat zuhause auf dem Tablet kurz geschaut, ob das aktuelle Mario Kart für die Tochter vorrätig ist, und kommt vorbei, um das Spiel abzuholen. Im Onlineauftritt kostet es 48 Euro. Im Markt sieht sie: Tatsächlich vorhanden. Prima. Kurz vor der Kasse aufs Preisschild geblickt: 68 Euro. Hoppla. Ganz schlecht. Verkäufer gefragt, Spiel etwas umständlich dann doch zu Internetkonditionen erstanden. Ein konsistentes Kundenerlebnis sieht anders aus. Glücklicherweise hat die zunächst verschreckte Kundin nicht per Smartphone noch im Laden nach anderen Anbietern gesucht.

Schauplatz mobiles Internet, 2014/2015: Der weltweit erfolgreiche britische Haarglätter-Hersteller GHD steigert seine Umsatzerlöse allein im mobilen Geschäft um 74 Prozent – Ergebnis einer koordinierten Kampagne aus bezahlten Suchergebnisanzeigen und einem für Smartphones angepassten Webauftritt, weil sich herausgestellt hatte, dass die Kunden hier präsenter sind als angenommen. GHD optimierte die Anzeigenschaltungen mit parallel laufenden Tests, so dass das Marketing sein Budget auf die Anzeigen konzentrieren konnte, die den besten Return on Investment (ROI) lieferten. Das ließ den ohnehin schon vorhandenen mobilen Traffic um 174 Prozent in die Höhe schnellen – was die Basis der Umsatzsteigerung bildete.

Unterschiedliche Geschwindigkeiten

Während die einen noch Probleme haben, stationären Handel und Onlineshop zu koordinieren, sind die anderen bereits dabei, ihr Standbein im Mobile Commerce auszubauen. Scheint es hier schon schwer, die eigenen digitalen Strukturen zu harmonisieren, ist dort bereits die Entscheidung zwischen Anzeigenversionen digital gesteuert.

Zwei Einzelbeispiele sicherlich. Aber sie weisen durchaus auf unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten hin, wie Prof. Dr. Heike Simmet, Marketingprofessorin an der Hochschule Bremerhaven, bestätigt. Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich seit ihrer Promotion 1989 mit der Wechselwirkung zwischen technischen Möglichkeiten und Kundenbeziehungen, leitet seit1998 das Labor Marketing und Multimedia (MuM) an ihrer Hochschule und ist im Beirat des Instituts für Customer Experience Management. Einige wenige große deutsche Unternehmen hätten die Zeichen der Zeit zwar erkannt. „Der Weg ist ganz klar, der geht in Richtung Digitalisierung. Aber längst nicht alle haben verstanden, dass sich unwiederbringlich etwas ändert. Man trifft immer noch auf viele Verantwortliche, die hoffen, dass das mit den sozialen Medien irgendwann mal wieder weggeht.“

Digitalisierung vom Kundennutzen her denken

Aber auch wo Digitalisierung ein Thema ist, bedeute das noch lange nicht, dass man sich mit den richtigen Dingen beschäftige. „Digitale Transformation von der Marketingperspektive betrachtet, bedeutet, dass man vom Kundennutzen her digital denkt. Das tun die meisten ja nicht. Für die heißt das, dass man ein bisschen was bei Facebook macht, Google Adwords nutzt und die Website aktualisiert, eben Kommunikation. Dabei ist vor allem bei vielen Mittelstandsunternehmen die Kunden-Perspektive ohnehin noch nicht angekommen, weder analog noch digital.“

Und wer dann digital etwas aktiver sei, klebe oft an „Dauerbrennern“ wie Content Marketing, Social und Mobile – und übersieht laut Simmet dabei, dass der digitale Trend-Zug schon längst schnell weiterfährt: So wird Social ergänzt durch vor allem mehr Individualität, so wird Mobile erweitert um Wearables wie iWatch und Google-Glasses, so wird Content Marketing erweitert durch Context Marketing, weil Kunden in unterschiedlichen Zusammenhängen eben auch unterschiedliche Bedürfnisse haben. Digitale Transformation heißt, dass es endlich die Technik dazu gibt, bereits viel früher angedachte Konzepte wie Permission Marketing oder One-to-One Wirklichkeit werden zu lassen. Und diese Konzepte richten sich am Kundennutzen und Kundenerlebnis aus. Simmet warnt allerdings davor, sich dabei auf Digitales zu beschränken, und rät, ganzheitlich zu denken und Service und Nutzen sowohl digital als auch analog anzubieten. Wie etwa Online-Lebensmittelhändler, die nach Kochrezept liefern. „Und den vielleicht zehn Prozent haptisch veranlagten Kunden muss man etwas zum Anfassen geben können.“

Selbst im Marketingwunderland USA ist nicht alles Gold, was glänzt. Zu oft scheint wohl auch hier die digitale Transformation im Marketing auf die Kommunikation mit dem Kunden beschränkt zu sein. So schrieb Avi Dan, langjähriger Werber und Marketingberater, im Blog des Wirtschaftsblatts „Forbes“ zu den Trends im Marketing für 2015: „Zu viele Unternehmen denken in den Kategorien des digitalen Marketing. Sie sollten stattdessen eher in den Kategorien von Marketing in der digitalen Welt denken“. Die Kundenperspektive einnehmen eben.

Interne Strukturen müssen passen

Dass das oft nicht ausreichend ganzheitlich klappt, hat auch mit unpassenden internen Strukturen zu tun. In vielen Unternehmen sind die Disziplinen noch zu sehr voneinander getrennt. Hier gibt es die Abteilung, die für den digitalen Bereich zuständig ist, dort gibt es den Vertrieb, an anderer Stelle beschäftigt man sich mit den klassischen Medien. Simmet stellt fest: „Die innere Vernetzung findet bei den meisten Unternehmen noch nicht wirklich statt.“

Das allerdings ist nicht nur ein deutsches Problem. Einer Studie der Kommunikationsberater von Hotwire PR zufolge, bei der OnePoll im Juni 2015 rund 300 US-Marketingentscheider befragte, sagte fast ein Viertel der Teilnehmer, dass fehlende Verbindungen zwischen den Marketing-Teams integrierte Multichannel-Kampagnen verhinderten. Accenture sieht offenbar im neuen Management-Posten „CDO“ eine Lösung. Das Beratungsunternehmen hatte ein Jahr zuvor in seiner Umfrage „CMOs: Time for digital Transformation“ schon auf die immer zahlreicheren Chief Digital Officers verwiesen. Diese kümmerten sich zunehmend darum, das volle Potenzial des „digitalen Spielfelds“ zu entwickeln, weil die Marketer zu stark damit beschäftigt seien, ihre digitalen Medienkanäle in Schwung zu bringen.

In Deutschland ist der Chief Digital Officer noch sehr rar: Im aktuellen Sommer hat eine Studie der Personalberatung Heidrick & Struggles und des Consulters DSP zum Thema Verantwortung für die digitale Transformation gezeigt, dass unter 80 DAX-Konzernen gerade einmal vier einen CDO beschäftigen. Die Zurückhaltung kann Heike Simmet allerdings verstehen. „Die Frage ist doch, ob man damit nicht ein neues Silo aufmacht. Es ist vermutlich viel sinnvoller, die Digitalisierung mit den anderen klassischen Bereichen zu vernetzen.“ So verhindere man überdies, dass man alles nur noch durch die digitale Brille sehe – Kundenbedürfnisse gingen aber eben darüber hinaus.

„Personalisierung ist ein Marketing-Tsunami“

Wohin die Reise dort und dann in der Folge auch im Marketing geht, darüber will Simmet keine Prognose wagen – fest steht jedoch für sie: „Die Dynamik in der digitalen Transformation wird immer noch von vielen unterschätzt. Das ist der absolute Knackpunkt.“

US-Marketingberater Avi Dan hält daher „Agility Marketing“ für eine der Gewinner-Strategien. Statt nur „Likes“, „Shares“ oder „Tweets“ zu zählen, komme es darauf an, über mehr Konsumentendaten zu verfügen, sie schneller zu verarbeiten, und real-time zu reagieren. Der Brennpunkt werde nicht mehr der nächste Monat oder das nächste Quartal, sondern die nächste Stunde. Dabei sieht Dan wie Simmet in der konsequenten Personalisierung einen wichtigen Ansatz. Auch wenn die Welt vernetzter sei, so werde das Marketing doch regionaler, lokaler, individueller. „Personalisierung ist kein Trend, es ist ein Marketing-Tsunami“.

Wenn es um Trends der digitalen Transformation geht, will Simmet aber nicht nur in die USA schauen. „Man muss den Blick mindestens genauso nach Asien richten. Dort ist man ein bisschen experimentierfreudiger, während wir im ingenieurgeprägten Deutschland dazu neigen, alles perfekt vorzuplanen. Das funktioniert in Zeiten der sich dynamisch entwickelnden Technologie nicht.“ Dort müsse man auch einmal etwas austesten, das sei in Deutschland aber nicht beliebt. Simmet: „Gut wäre es, deutsche Gründlichkeit mit US-Servicehaltung und asiatischer Technologieaffinität zu verbinden.

Faszinierender Schneeball-Effekt

Zumindest die ersten beiden Tugenden verkörpert Neil Patel, indischstämmiger Londoner. Der gerade 30-jährige Gründer von Webanalyse-StartUps wie Crazy Eggs und dem darauf aufbauenden KISSmetrics ist wie Marketing-Urgestein Avi Dan Forbes.com-Autor und zählt laut der Online-Ausgabe des Wirtschaftsblatts Entrepreneur zu den Top 50 der Online-Marketing-Meinungsführer. Seine Sicht auf die Zukunft ist natürlich stark online-getrieben. Neben den üblichen Verdächtigen wie „Mobile. Just Mobile“ und der inzwischen „unerlässlichen“ Marketing Automation wird das aktuelle Jahr seiner Meinung unter anderem vom „faszinierenden Trend“ Growth Hacking geprägt – also ganz gezielt allein auf exponentielles Wachstum konzentrierte, datengetriebene Marketing-Maßnahmen. Standardbeispiel ist etwa das Bonusprogramm von Dropbox, bei dem sowohl der Nutzer, der einen Neukunden warb, als auch der Neukunde selbst jeweils zusätzliche 500 Megabyte erhielten – was die Nutzerzahlen innerhalb kurzer Zeit nach oben trieb.

Es wird spannend sein, zu sehen, ob Patel Recht behält. Das Growth-Hacking-Prinzip, über den Schneeball-Effekt immer mehr Werber für die eigene Sache zu gewinnen, ohne allzu viel Geld ausgeben zu müssen, ist natürlich nicht nur für die Startup-Szene interessant, für die dieser Trend steht. Das Prinzip dahinter besteht aus zwei Säulen – kompromisslos konsequent eingesetzte technische Mittel, kombiniert mit einer Geschäftsidee, die anfangs nicht viele Kunden kennen, die aber potenziell sehr vielen Kunden sehr viel Nutzwert bietet. So gesehen also eigentlich ganz klassisches Marketing. Nur eben digital transformiert.

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